Zukunft statt Nottun & lassen

In der Überfuhrgasse 9 in Graz werden wohnunglose Personen zwischen 18 und 26 Jahren auf dem Weg in ein selbstständiges Leben unterstützt (Foto: Stadt Graz / Fischer)

In Graz zeigt das neueröffnete «Wohnhaus für Junge Erwachsene», warum das Angebot von Notschlafstellen für junge Menschen – auch in Wien – zu kurz kommt.

Vor allem sind es Vorurteile und Diskriminierungen, mit denen obdachlose Menschen konfrontiert werden – und die die Wege aus der Wohnungslosigkeit oft steinig machen. ­Obdachlosigkeit hat viele Gründe – auch bei wohnungslosen Jugendlichen (oder jungen Erwachsenen). Manchmal kommen noch Schulden oder auch psychische und Sucht­erkrankungen hinzu. Der Wegfall von Kinder- und Jugendhilfen mit dem Erreichen der Volljährigkeit kann ebenfalls ein Grund für das Abrutschen in die Obdachlosigkeit sein. Junge Menschen sehen sich plötzlich mit einem Alltag konfrontiert, auf den sie nicht vorbereitet wurden. Oft haben auch die ­Eltern mit prekären Wohnverhältnissen zu kämpfen – das kann zum Domino­effekt führen.

Graz

«Junge wohnungslose Menschen haben oft den Glauben verloren, dass es in unserer Gesellschaft einen Platz für sie gibt», sagt die Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr. Auf ihre ­Initiative geht ein speziell für junge ­Erwachsene entwickeltes Wohnangebot der steirischen Landeshauptstadt zurück, das vor Kurzem seinen Betrieb aufgenommen hat. In einem Haus mit Garten in der Nähe des Kalvarienbergs können seit ­Februar zehn Personen im Alter von 18 bis 26 Jahren betreut werden. Anders als andere ­Notschlafquartiere wird das «Wohnhaus für Junge ­Erwachsene», von der klinischen ­Psychologin ­Natalie Posthumus geleitet und direkt vom Grazer Sozialamt betrieben. «Unser Ziel ist es, wohnungslose junge Erwachsene auf selbstständiges Wohnen vorzubereiten, mit allem was dazu gehört, wie Existenzsicherung, Stabilisierung, Haushaltsführung, Tagesstruktur, ­Jobsuche, Umgang mit Geld, wo bekomme ich ­Hilfe usw.» Das Wohnhaus in der Überfuhrgasse wurde 2004 erbaut und in den ersten Jahren als Jugend-Wohngemeinschaft geführt; später waren auch Geflüchtete aus der Ukraine darin untergebracht. Im Vorjahr wurde das Gebäude saniert, sodass nun zehn Wohneinheiten für junge Obdachlose zur Verfügung stehen, neben drei Bädern und WCs, ­einer Küche mit Essbereich, verschiedenen Aufenthalts- und Beratungsräumen sowie einer Büro-Infrastruktur.

400.000 Euro wurden vom Grazer Stadtsenat für das Projekt und den Umbau des Hauses genehmigt – was die ÖVP in Gestalt von Gemeinderätin Elisabeth (Sissi) Potzinger prompt zur Hinterfragung animierte, weil «wir in der Stadt Graz ein gut ausgebautes System der Wohnungslosenhilfe ­haben, wir zudem Träger mit einer jahrelangen Expertise in diesem Bereich ­haben und dieses Projekt einige budgetäre Fragen offenlässt», heißt es in einer Anfrage an Elke Kahr. Tatsächlich gibt es in Graz eine Reihe von ­Notschlafstellen, die unter anderem von der Caritas und den VinziWerken betrieben werden. Ihre Ausrichtung, so Elke Kahr, unterscheide sich aber grundlegend von den Bedürfnissen obdachloser Jugendlicher. FranzisCa adressiert beispielsweise Frauen, VinziHerz richtet sich an Familien und das VinziDorf ist eine ­Dauerherberge für männliche Obdachlose. In vielen Fällen würden wohnungslose Jugendliche zwar eine temporäre Hilfe finden, möglicherweise aber mit «älteren, oft alkoholkranken Männern» untergebracht werden. «Vorhandene Einrichtungen in Graz, wie etwa Notschlafstellen, bieten aufgrund ihrer Struktur und Ausrichtung oft nicht die passende Begleitung für diese Zielgruppe, da sie großteils auf eine Grundversorgung von Wohnraum und Nächtigungsangeboten ausgerichtet sind», bringt Sozialamtsleiterin ­Andrea Fink die Problematik «junger wohnungsloser Erwachsener» – wie bereits Natalie Posthumus – auf den Punkt: Diese bräuchten mehr, «nämlich vor allem Begleitung und Beratung und zusätzliche Unterstützungsangebote, wie Stabilisierung im Alltag, Erlernen einer Tagesstruktur oder Unterstützung bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche». Etwas direkter ausgedrückt: Perspektiven statt Milieu.
Diesen Tenor teilen sich im ­Wesen alle Programme und Projekte. Mit dem Schlupfhaus betreibt auch die Caritas in Graz eine Notschlafstelle am Mühlgangweg 1, die ein ähnliches Ziel verfolgt, wie das von Elke Kahr ­initiierte Haus: «Ganz egal aus welchem Grund auch immer Hilfe oder eine ‹Verschnaufpause› benötigt wird – das Schlupfhaus ist für alle zwischen 14 und 21 Jahren 365 Tage im Jahr geöffnet», verspricht die Website. Langfristig sollen dort junge Erwachsene durch Beratungsangebote oder die «Mobile Wohnbegleitung» in die Selbstständigkeit zurückgebracht werden. ­Finanziert wird das Projekt nicht zuletzt durch Spenden: 25 Euro ermöglichen einem Jugendlichen eine Nacht im Schlupfhaus.

Europa

EU-weite Zahlen zur Obdachlosigkeit haben eine Unschärfe, weil die Mitgliedsstaaten unterschied­lichen Definitionen von Obdach- oder Wohnungslosigkeit folgen. Laut ­einem ­Bericht von FEANTSA, der Europäischen ­Föderation nationaler Organisationen, die mit obdachlosen Menschen arbeiten, und der Abbé Pierre Foundation waren im Jahr 2022 in der Europäischen Union etwa 895.00 Menschen ohne Wohnung – etwa 70 Prozent mehr als ein Jahrzehnt davor. «Jede Nacht wird in Europa eine Bevölkerung ­obdachlos, die der einer Stadt wie Marseille oder Turin entspricht», heißt es im Bericht. Angefeuert wird diese Entwicklung durch den Ukraine-­Krieg und das Hochfahren der Rüstungsbudgets gegenüber den Sozialausgaben. Gleichzeitig will die EU aber mit der 2021 ins Leben gerufenen «Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Obdachlos­igkeit» bis zum Jahr 2030 dafür ­sorgen, dass keine Menschen mehr auf der ­Straße schlafen müssen. Ob der ­fragile Plan unter derzeitigen Rahmenbedingungen Bestand hat, wird sich zeigen. ­Einen leichten Rückgang bei den Obdachlosenzahlen registriert der FEANTSA-Bericht immerhin bei drei EU-Mitgliedsstaaten, nämlich Finnland, Dänemark und Österreich. Im Jahr 2021 waren in der Alpen­republik laut Zahlen der Statistik Austria etwa 19.450 Personen als obdach- oder wohnungslos gemeldet, 58,3 ­Prozent davon in Wien – wobei auch diese ­Zahlen unscharf sind: Wer «nur» wohnungslos ist, konnte möglicherweise bei Freund:innen oder der Wohnungslosenhilfe unterkommen. Wer obdachlos ist, schläft im schlimmsten Fall auf der Straße – und scheint in der Statistik nicht auf.

Wien

In der Wiener Ludwigsburg stehen im Rahmen des Projekts ­«a_way» zehn von der Caritas betreute Notschlafstellen für Menschen zwischen 14 und 20 Jahren zur Verfügung. Bis zu fünf Nächte kann man im ersten Anlauf dort verbringen, gegebenenfalls im Rahmen einer Betreuung und Wohnungsvermittlung auch mehr. Bei fast 4.000 registrierten Obdachlosen unter 30 Jahren landet die Mehrheit allerdings in nicht für sie konzipierten Notquartieren und ohne Betreuung – laut dem Positionspapier der AG Junge Wohnungslose 2021 pro Nacht immerhin 1.200 Personen. Zwar betreibt auch die Stadt Wien diverse Krisenzentren, bei denen oft aber der Schmerz behandelt wird, und nicht seine Ursache. «Wohnungslosigkeit ist traumatisierend, vor allem für junge Menschen», heißt es im Vorwort des Situationsberichts 2023 des Verbands Wiener Wohnungslosenhilfe. «Die Wohnungslosenhilfe ist in Wien an sich gut ausgebaut und verfügt über ein breit gefächertes Angebot. Gerade für junge wohnungslose Erwachsene gibt es aber zu wenig spezifische Wohn- und Betreuungsangebote.»
Als zweitgrößte Stadt Österreichs hatte Graz Anfang des Jahres 302.660 Einwohner:innen, 337 waren laut dem Online-Medium der Grazer als obdachlos gemeldet. Verglichen mit der 2-Millionen-Stadt Wien ist das Grazer Wohnangebot für junge Erwach­sene von gewaltigen Dimensionen. Das ­Gesamtbild aber bleibt zynisch.

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