Seethaler bleibt SeethalerArtistin

Run auf die neuen Poesiezetteln - aus Wut und aus Sympathie

«Sie haben mir wieder an allen Stationen der Linie 5 all meine Gedichte runtergerissen UND am Boden liegen gelassen. Jeweils in hunderte kleine Teile zerrissen. Was für kranke Wut auf kleine Zettel mit Literatur! Ich sah bei einer Station von weitem zu: Es waren Wiener-Linien-Amtspersonen, gemeinsam mit zwei Typen der Plakatierungsfirma Gewista. Einer dieser Typen hatte mir vor einem Jahr drei feste Tritte in den Hintern verabreicht, als er mich beim Ankleben meiner Gedichte erwischte. ?Ich sandte damals diesen Vorfall an die APA. Mehrere Tageszeitungen berichteten in Folge drüber. Das schien mir wichtiger, als eine Anzeige wegen Körperverletzung zu machen.»

Ein frisches Mail von Helmut Seethaler. Oft unterbrechen solche Nachrichten in eigener Sache lange, vermeintlich seethalerfreie Perioden. Und oft sind die Leser_innen dieser Botschaften erschrocken ob der resignativen Stimmung, die der inzwischen in die Jahre gekommene, aber seinem Stil der Verbreitung seiner Literatur fast unheimlich treu bleibende Stadtdichter preisgibt. Immer wieder hat Seethaler angedeutet, dass er nun finanziell und moralisch am Ende sei und dass Polizei und Wiener Linien (in deren Passagenbereichen die meisten Zettelgedicht-Klebeaktionen erfolgten) endlich erreicht hätten, was sie seit 1974, dem Beginn seiner Stadtverschönerungsaktionen, anstrebten: der Dichter – ein Wrack hinter Gittern; die Stadt – endgültig gesäubert von «illegaler» Lyrik. Und wenn dann diejenigen, die diese Pflückliteratur schätzen, tatsächlich monatelang auf keine Gedichtmeile stoßen, scheint es also doch wahr geworden zu sein: Die Stadt hat ihren Zetteldichter untergekriegt.

Und dann gerät man wieder völlig unvermutet mitten in eine der wilden Galerien Seethalers, etwa in der U6/U3-Passage beim Westbahnhof. Immer sind Neugierige zur Stelle, die die «Widerstandsgedichte» lesen oder die Textzettelchen vom Tixo-Band lösen, um sie als Andenken an die liebevollste vor-digitale (oder anti-digitale?) Art, Literatur zu verbreiten, mit nachhause zu nehmen. Eingeweihte wissen, dass – wenn ein neuer «Galeriestandort» eröffnet ist – Autor und Kurator Helmut Seethaler sich gerne in Sichtweite aufhält, um die Redaktion des Publikums zu beobachten – oder aber des immer in der Luft schwebenden, kunstfeindlichen Destruktionstriebs gewahr zu werden; als ob die mehr als 1100 Anzeigen wegen Verschmutzung, Ordnungsstörung, Behinderung des Fußgängerverkehrs etc. nicht schon um 1100 Anzeigen zu viel wären.

Seethaler bleibt Seethaler. Auf eine unzeitgemäße Art cool, aber ohne die Wertschätzung der jungen Literatur- und Kunstszene in dieser Stadt. Auch ohne die Solidarität der «Die Stadt gehört uns»-Engagierten. Das soll auch einmal gesagt sein.

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