Wenn Steine weinen (1)Dichter Innenteil

Als ich ein paar Monate alt war verließ meine Mutter meinen Vater. Mein Vater war Musiker, er spielte Ziehharmonika. Er war gewohnt an das Nachtleben und daran, viel zu trinken. Oft wurde er dabei aggressiv. Meine Mutter war gerade 15 Jahre alt, als man sie mit meinem Vater verheiratete. Radovan schlug meine Mutter einmal so fest, dass sie überall blau wurde. Ihre Verwandten hörten davon und holten sie am nächsten Tag ab.

Sie war ebenso erst 15 Jahre, als sie wegging. Ich blieb in einem Korb bei meinem Vater. Meine Mutter wurde Volkssängerin, mich besuchte sie ein paar Mal im Jahr. Die ersten 12 Jahre verbrachte ich großteils mit Strahinja, meinem Großvater …

Grafik: Silke Müller

Strahinja

Mein Großvater sah aus wie ein adeliger Herr. Von seiner Gestalt her groß, mit schwarz glänzenden und nach hinten gekämmten Haaren. Er hatte eine hohe Stirn, seine bräunliche Haut ließ ihn hervorragend erscheinen. Meistens zog er ein Sakko, ein weißes Hemd und eine Krawatte an. Sein edles Aussehen, seine Kenntnis der Musik, sein ruhiges Gemüt und sein feiner Charakter verhalfen ihm in seiner Jugend zu vielen Auftritten.

Bald würde ganz Serbien ihn unter dem Namen «Strahinja der Geiger» kennen. Ihn kannte fast jeder in Macva, mit Respekt sprachen sie über ihn. Mit meiner Oma Natalie hatte er vier Kinder. Zwei Töchter und zwei Buben: Stana, Rosa, Mischa und Radovan. Ich weiß nicht, ob meine Großmutter zusammen mit meinem Großvater musizierte. Von Erzählungen weiß ich, dass sie eine gute Mutter war, verantwortungsbewusst und fleißig.

Auf dem einzigen Schwarzweißfoto, welches ich noch von ihr habe, wirkt sie graziös, tugendhaft sowie edel, klug und liebreizend. Mein Großvater und sie passten einfach grandios zusammen, wie zwei Filmstars.

Natalies Hühner und Gänse waren die größten in Tabanović (Ort), die Hemden hingen strahlend weiß auf der Wäscheleine. Sie war die Art Frau, die Wildschweine fangen konnte, um Kinder durchzubringen. Manchmal ging sie heimlich auch stehlen, wenn es nötig war. Mein Opa hielt nichts von dieser Art, Kindern Essen zu bringen, es wäre zu riskant. Er ging lieber fiedeln.

Leider starb Natalie in jungen Jahren, nach einer Schilddrüsenoperation. Ihre Schwester brachte ihr etwas von Zuhause zu essen mit, wovon sie eine Entzündung bekam, weshalb sie sich nach ein paar Tagen von dieser Welt verabschiedete. Mein Großvater hat niemals wieder geheiratet.

Von außen sah er aus wie ein Bettler, wenn er aber auf der Geige spielte, dann glich er einem Maestro


Bedauerlicherweise kannte ich Opa nur mit dunklen Ringen unter den Augen, mit Stock und schwächlich. Von außen sah er aus wie ein Bettler, wenn er aber auf der Geige spielte, dann glich er einem Maestro, als wäre das Instrument Teil seiner Seele, verschmolzen in Veränderung, wie in einer Symbiose. Wenn man die Augen zumachte, konnte man sich vorstellen, dass er einen Soloauftritt bei den Philharmonikern hatte.

Ich erinnere mich gerne an die Zeit am Anfang eines Monats, wenn er seine Pension bekam: Wir fuhren zur Ruža nach Šabac, um dort Čevapčiči mit Zwiebeln zu essen und Coca-Cola zu trinken. Er trank gerne kalte Boza, das ist so etwas wie eine Art billige Limonade (selbst gemacht). Es waren die besten Čevapčiči, die ich jemals in meinem Leben aß. Es gibt diesen Imbiss noch immer, doch die Čevapčiči schmecken fad. Rumänisch war seine Muttersprache, und wenn er mir etwas Nettes sagte, dann meistens auf Rumänisch. Ich redete nur Serbisch mit ihm.

Oft strahlte sein altes Gesicht vor Demut, Liebe und Freundlichkeit, jeder liebte meinen Großvater. Etwas, das man leider nicht über meinen Vater sagen konnte. Er war das Gegenteil von seinem Vater. Wenn mein Vater nicht zu Hause geboren worden wäre, würde man denken, er sei vertauscht worden. Radovan sah ganz anders aus, er hatte blaue Augen und helle Haut. Mein Großvater hatte dunkle Augen, dunkle Haare. Es wäre sicher sehr spannend gewesen, was bei einem Vaterschaftstest herausgekommen wäre.

Gott sei dank wussten damals so wenige Leute von so etwas, und mein Großvater verlangte ihn nie. Er liebte seine Frau so, wie sie war, und sie konnte gut schweigen und, wer weiß, vielleicht war ein Ur-Opa ein «Arier».

Ein Sohn von meinem Opa, Mischa, starb mit 22 Jahren beim Militär. Er wurde krank, seine Nieren versagten. Auch das Herz von seiner Tochter Rosa blieb in ihren blühenden Jahren stehen. Deutsche Nationalsozialisten erschossen seine Schwester vor der Haustüre. Seine andere Schwester starb beim Lagerfeuerspringen. Ihr langes Haar entflammte, und sie verbrannte elendiglich.

Der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war der Tod seiner Frau Natalie. Als sie starb, brachte man ihn nach Kovin, dort ist eines der größten psychiatrischen Zentren Serbiens. Er sprach mit niemandem über seine seelischen Schmerzen, nicht davor und nicht danach. Man konnte sagen, er war in sich gekehrt, nicht nachdenklich, nur ruhig. Ob diese Ruhe von seinen Tabletten kam, welche er vor vielen Jahren von den Ärzten bekam, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es einfach war, mit ihm zu leben. Einmal wollte er meinem Vater Radovan beim Kalklöschen helfen, und er fiel in die heiße Grube. Sein Glück war es aber, dass er immer mehrere Hosen übereinander anhatte.

Blaue Ziffern am Arm

In all den Jahren habe ich ihn niemals sich beklagen hören. Er war frei von Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit. So sprach er auch nie über die vielen blauen Ziffern, die er am linken Arm tätowiert trug. Seit vielen Jahren ist er tot. Als er lebte, erzählte er mir nie etwas darüber, auch wenn ich als Kind immer wieder neugierig fragte. Er nickte nur friedlich und sagte: «Das ist nichts, mein Kind.» Viele Jahre später erfuhr ich in Wien von meiner Tante Menka die Geschichte von der Flucht vor dem Zug. Ihr Vater und mein Großvater wurden von deutschen Soldaten festgenommen, es waren sehr viele Roma dabei, nur dunkelhäutige Menschen. Serben standen neben dem Zaun und schauten zu, wie die Deutschen sie wegführten. Stumm gingen sie, immer in Zweierreihen, als meinen Großvater plötzlich der Mut packte. Er zog seinen Bruder am Arm, und sie liefen so schnell und so weit, wie sie ihre Füße tragen konnten. Gott sei Dank haben sie die Schüsse nicht erwischt. Tagelang haben sie sich bei serbischen Bauern in Ställen versteckt.

Ich war sehr überrascht und stolz auf meinen Großvater, als mir meine Tante diese Geschichte erzählte.

Was wäre meine Kindheit ohne meinen Großvater. Er war das einzige Wesen, welches mir seine Liebe und Anerkennung schenkte. Oft ging er mit seiner Geige in die Stadt Šabac. Dort, vor dem Spital, strichen seine langen dunklen Finger kunstvoll über die Saiten, und rührende Musik stieg empor. Für viele Passanten war er nur ein alter schmutziger Zigan, und für sie war es mehr Betteln als angesehene Arbeit. Wenn aber jemand ein großes Herz hatte, blieb er kurz stehen, hörte aufmerksam zu und ließ nach einem bodenlosen Seufzer ein paar Münzen klingeln.

Viele Herzen konnte dieser alte Mann so berühren. Meistens spielte er traurige Lieder. Seine Melodien konnten Steine zum Weinen bringen. Nach dem Tod meines Großvaters habe ich selten so eine herzzerreißende Musik gehört. Wenn mehrere Dinar in seinem braunen Hut glitzerten, kaufe er einen Somun (weißes Brot) und Carnes (Leberpastete). Das war immer eine Freude zu Hause. Ein richtiger Festtagsschmaus für uns beide. Er füllte den braunen alten Koffer am Boden, unseren Behälter für Essensvorräte, mit Sardellen aus der Dose und Kaffee. Zwar besaßen mein Vater und meine Stiefmutter einen Kühlschrank in ihrem Haus, aber den durften wir nicht anrühren.

Wenn es gerade nicht regnete oder schneite, verbrachte ich die Zeit bei meinem Großvater. In einem schmalem Zimmer, das gleich neben den Hühnern und dem Stall lag. Dort waren nur ein Bett und ein winziger Herd. Eine Glühbirne und ein Eiskasten waren überflüssig. Für Sardellendosen und Carnes-Pasteten war der schäbige Koffer gut genug.

Wenn keine Silbermünzen in dem braunen Hut saßen, brachte er mir in einem zerknüllten Taschentuch Süßspeisen mit oder Reste von einem Fest, bei dem er dafür fiedeln musste. Andere Enkelkinder ekelten sich vor diesen Taschentüchern. Ich nicht.

Wenn kein Essen in seinem Koffer zu finden war, klimperten ein paar Münzen in einen Knoten gebunden unter seinem Kopfkissen. Wenn mein Großvater nicht da war, nutzte ich die Gelegenheit, um den Knoten zu öffnen und ein paar Münzen zu ergattern. Bis heute weiß ich nicht, warum ich das tat. Nur bei ihm hatte ich die Freiheit, dieser üblen Gewohnheit nachzugehen. Ich könnte alles ergaunern, und es würde mir niemals so ein Stein auf dem Herzen liegen, wie er es heute wegen dieser Taten von damals tut. Ich schäme mich dafür, wenn ich mich daran zurückerinnere, dass ich jemanden wie meinen Großvater betrog. Auf eine Art wusste Opa, dass ich ihn bestahl, doch er sagte nie etwas. Ich war oft mit den Kindern in der Mahala, und sie zeigten mir vor, wie man so etwas macht.

Auf einer winzigen Ottomane

Mein Großvater und ich schliefen auf demselben Kopfkissen, und noch heute wundere ich mich, wie zwei Personen auf so einer winzigen Ottomane schlafen konnten. Obwohl die Bettwäsche bei meinem Vater sauberer war und ich ein Bettgestell nur für mich hatte, schlief ich lieber bei meinem Großpapa. Selten übernachtete ich in dem Haus von meinem Vater und meiner Stiefmutter. Bei meinem Opa schlief ich einfach tief und friedlich. Wenn es warm wurde, ließ er in der Früh immer die Tür offen, während er an seiner Kaffeemühle drehte. Das sanfte Klirren zusammen mit dem Zwitschern der Spatzen war wie eine Melodie am Morgen. Wenn sich dann auch noch der frische Taugeruch mit dem Kaffeearoma vermischte, ergab sich ein für mich überwältigendes Gefühl. Ich rannte barfuß nach draußen, pumpte das kalte Wasser nach oben, erfrischte mein Gesicht, kämmte meine Haare und schlürfte dann ein paar Tropfen Kaffee, die Opa mir erlaubt hatte. Ich trank auch den schwarzen Sud. Eine Zahnbürste, geschweige denn Zahnpasta, besaß ich nicht. So lachten mich oft die Kinder in der Schule aus, weil ich schwarze Punkte zwischen den Zähnen hatte. Oft, wenn ich von der Schule nach Hause kam, lagen in einer Pfanne vertrocknete Spiegeleier. Manchmal kochte er auch eine Bohnensuppe, ihren einladenden Geruch roch ich von weitem. Ab und zu gab es gebratene Äpfel und Bratkartoffeln. Was auch immer aus seiner Hand kam, es war mit Liebe gemacht.

Wenn mein Opa wohlhabend gewesen wäre, hätte er mir die Welt gekauft, mitsamt den Sternen. Ich kenne niemanden, der so viel Liebe für sein Enkelkind hatte wie er. Die Bindung zwischen meinem Opa und mir war wie zwischen ihm und seiner Geige, wenn er auf ihr spielte. Wie Pech und Schwefel. Manchmal schrieb er mir meine Hausaufgaben, der Lehrer wusste das, aber er sagte nie etwas. Die Schrift von meinem Opa war viel schöner als meine, die Kinder lachten immer und sangen in der Pause: «Opa schreibt ihre Hausaufgaben!» Mein Gesicht wurde rot, und ein komisches Gefühl zog in meinem Bauch ein. Wenn der Großvater mir dann wieder meine Aufgaben schreiben wollte, sagte ich: «Ich habe keine Aufgaben.»

Gewidmet meinem geliebten Großvater Strahinja          

von seiner Enkelin Vera Vasiljković

Den zweiten Teil können Sie in der Augustin-Ausgabe Nr. 413 und hier lesen.