Ein Haus in Margaretenvorstadt

20 Jahre AUGUSTIN: Jahrgang 2006 – Ein Blick in die Geschichte der AUGUSTIN-Adresse

Eineinhalb Jahre bevor der Augustin ins Hofgebäude der Anschrift Reinprechtsdorfer Straße 31 im fünften Bezirk gezogen ist, hatte er dort bereits einen dienstlichen Termin. Es galt von der Eröffnung des «Thara-Haus» zu berichten. Um noch mehr von der Geschichte unserer aktuellen Adresse zu erfahren, engagierten wir dafür den Historiker Anton Tantner.

Foto: Lisa Bolyos

Bis in die Mitte des 19. Jahrhundert hinein war die Gegend, wo heute der Augustin sein Domizil hat, weitgehend unverbaut geblieben, befanden sich auf diesem zur Vorstadt Matzleinsdorf gehörigen Gebiet gerade mal ein paar wenige Häuser, dafür umso mehr Wiesen, Felder und Gärten. Schräg gegenüber dem heutigen Augustin-Haus, die Reinprechtsdorfer Straße stadtaufwärts stand damals eine Badeanstalt, das «Florianibad», dessen Wasser von Pächter Joseph Siegel noch 1827 ob «seiner Weichheit und Krystallenklarheit» gepriesen wurde und dessen Lage dem «Naturfreunde» eine «reine gesunde Luft und eine vorzügliche Aussicht über Wiens Umgebung» gewährte – schwer vorstellbar, heute, wo sich der Verkehr samt 14A entlang aufgelassener Glücksspiellokale durch die Straße hinauf- und hinunterdrängt.

Das Florianibad befand sich am Areal des so genannten «Hühnerhofs», auf dem Mitte der 1850er Jahre ein neues, einstöckiges Gebäude errichtet wurde, das zunächst landwirtschaftlich genutzt wurde, dann auch als Kaserne. 1872 bis 1887 waren dort drei Baracken aufgebaut, die zur Beherbergung obdachloser Frauen und deren Kinder dienten, die Gegend scheint also für Sozialprojekte geradezu prädestiniert gewesen zu sein.

Auch Volksbelustigungen, politische Versammlungen und Spektakel kamen nicht zu kurz: Von der Reinprechtsdorfer Straße gesehen Richtung Meidling erstreckte sich im 19. Jahrhundert zwischen Siebenbrunnengasse und Siebenbrunnenfeldgasse der «Parisergarten», der im März 1865 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Trapezkünste und Pantomime wurden dort dargeboten, Betty Kubin, genannt «zweite Blondin», bewies am 1. Juni 1865 ihre Geschicklichkeit auf dem Turmseil. Im September desselben Jahrs versuchte der Luftschiffer Delamarne, sich vom Parisergarten aus mit seinem steuerbaren Ballon zu erheben, allein, das gelieferte Gas hatte nicht die nötige Leichtigkeit. Hausmeister_innen hielten hier ihre Vollversammlungen ab, um ihren Interessen Nachdruck zu verleihen, während eine 1874 durch Joseph Schwarzinger, Vertreter des radikalen Teils der Arbeiterbewegung, einberufene Volksversammlung kurzerhand verboten wurde. Wenig später wurde diese Grünfläche an die Wiener Baugesellschaft verkauft und verbaut.

Der Eigentümer wohnte nobler

Zu dieser Zeit stand auf der Parzelle des heutigen Augustin-Haus – Reinprechtsdorfer Straße 31, bis Mitte der 1880er Jahre lautete die Adresse Reinprechtsdorfer Straße 3 – bereits ein Gebäude: Es war 1862 errichtet worden und zählte gerade mal zwei Stockwerke mit nur einer Wohnpartei; Eigentümer war der Stadtbaumeister und Architekt Adolf Ringer, der allerdings nicht hier, sondern in der nobleren Josefstadt wohnte. 1868 stand das Haus zum Verkauf und wurde von Johann Gottlieb und Barbara Becker erworben; Becker war Tischler und richtete darin eine Stroh- und Rohrsesselfabrik ein. Tochter Wilhemine starb im Oktober 1873 gerade mal 33jährig an Typhus, die zwei Söhne Karl und Franz wurden Holzhändler; ersterer errichtete 1893 an Stelle des alten Hauses das heute noch existierende vierstöckige Gebäude, das nun 22 Wohnungen beherbergte, neben Karl wird noch seine Frau Josefa Becker als Eigentümerin genannt.

Was ist über die Beckers bekannt? Ist es relevant zu wissen, dass dem Holzhändler Karl im Jänner 1882 zu Oberlaa ein Pferd gestohlen wurde, wie die Wiener Zeitung verrät? Dass das alte Ehepaar – er 87, sie 86 Jahre alt – am 10. November 1895 «in voller körperlicher und geistiger Frische die diamantene Hochzeit» feierte und von honorigen Bezirkspolitikern einen «geschmackvoll auf einer Sammttablette ausgeführten Silberkranz mit Edelweiß» überreicht bekam? Dass die Familie damals 17 Enkel und fünf Urenkel zählte und Karl in Margareten als Bezirksvertreter und Armenrat zu Ansehen kam und ihm 1898 im Rathaus die Goldene Salvator-Medaille überreicht wurde?

Was erlebten das Haus und seine Bewohner_innen um die Jahrhundertwende und den darauf folgenden Jahrzehnten? Es blieb lange Zeit im Eigentum der Familie Becker und ihrer Nachkommen, die dort ihre Holz- und Kohlenhandlung betrieb; überliefert ist das tragische Schicksal des 25 Jahre alten Hausbewohners Karl Scholz, ein Eisendrehergehilfe, der sich am 31. Oktober 1899 mit einem Revolver erschoss, sein Motiv blieb unbekannt. Von einem weiteren Bewohner namens Franz Rapf ist bekannt, dass er stolzes Mitglied des ersten österreichisch-ungarischen Zentral-Züchterverein edler Kanarien war und seine Vögel per Annoncen zum Versand anbot, darunter einmal Harzer Edelroller-Kanarien, «vorzügliche, bei Tag und Licht singende Vögel», Rapf garantierte «für Wert und lebende Ankunft».

Über die Berufe der Hausbewohner_innen ab den 1920er Jahren informiert uns der «Lehmann», das berühmte Wiener Adressverzeichnis: So lebten in der Reinprechtsdorfer Straße 31 der Musiker Anton Petrik, ein Korrektor namens Karl Punz, die weiteren Parteien arbeiteten als Maschinenschlosser, Meerschaumdrechsler, Näherin, Schriftsetzer sowie Tischler, Schneider_innen und Beamt_innen. Josef Suck betrieb hier eine Delikatessenhandlung, nach dem Zweiten Weltkrieg von seiner Witwe Emilie weitergeführt – daraus wurde dann eine Meinl-Filiale –, und spätestens 1936 öffnete die Tabaktrafik der Marie Siegmund für einige wenige Jahre ihre Pforten. Der Betrieb des Harmonikatischlers Thomas Valasek (Walaschek) wurde nach dem Krieg von Gertrude Valasek, wohl seine Tochter, weitergeführt; im Hof stand noch längere Zeit ein regelrechtes Knusperhäuschen, die Wohnstätte der bei den Kindern gefürchteten Hausbesorgerin Mayer.

Diverse Mieter_innen

Ende der 1980er Jahre kaufte schließlich der Besitzer der Boutique Steurer die meisten Anteile am Haus von der Erbengemeinschaft auf und errichtete daraufhin jenes Gebäude im Hinterhof, in dem seit Herbst 2007 der Augustin residiert. Durchaus diverse Mieter_innen waren hier im Laufe der Jahre einquartiert: Zunächst ein Unternehmen, das Tests für Trinkwasser anbot und ab 1998 die auf Geschwindigkeitsmessung und Sicherheitstechnologie spezialisierte Firma Teletraffic, die über mehrere Jahre Geschäfte mit Laserpistolen, Abstandmessgeräten und sonst eher aus Spionagefilmen bekanntem High-Tech-Spielzeug tätigte: Im Angebot waren auch Irisscanner, die den berührungslosen Zutritt zu Hochsicherheistrakten von Banken, Gefängnissen und Militäranlagen ermöglichen sollten. Anfang der 2000er hielt die New Economy Einzug in das Hofgebäude, von wo aus nun eine Internettplattform und ein Servicecenter zur Vermittlung von Seminarhotels betrieben wurden.

Im Mai 2006 wiederum wurde in diesen Räumlichkeiten das Thara-Haus eröffnet: Dabei handelte es sich um eine EU-finanzierte Bildungs- und Freizeiteinrichtung der Volkshilfe für jugendliche Roma und Sinti, die kostenlose Computerworkshops, Musik-, Tanz und Theaterunterricht genauso anbot wie Medienausbildung, Beratung im Umgang mit Behörden und einen Romanes-Kurs. Es gab eine Hip-Hop-Gruppe, Bilder von Ceija Stojka wurden ausgestellt, Harri Stojka trat auf; in der kurzen Zeit seines Bestehens – die Finanzierung lief 2007 aus und es fand sich keine Stelle, die diese fortsetzte – nahmen mehr als 300 Jugendliche die Angebote dieser Einrichtung, über die auch der Augustin berichtete, in Anspruch.

Ganz schön viel Geschichten also, die sich in diesen Gemäuern abspielte, wo seit Herbst 2007 die Augustin-Verkäufer_innen ihre Zeitungsexemplare abholen, Radio-, Fernseh- und Printjournalismus betrieben wird und das Stimmgewitter seine Auftritte probt; Geschichten, die nun auch von den Augustiner_innen weitergeschrieben und erzählt werden.