Asphalt und Anarchievorstadt

Eine proletarische Disziplin: Polo auf dem Fahrrad

Es gibt gewiss bequemere Arten, einen kleinen Ball zu spielen als gerade mit einem langen Schläger von einem Fahrrad aus. Allerdings auch kaum faszinierendere. Davon sind zumindest Bikepolo-Spieler_innen überzeugt, denen Wenzel Müller (Text und Fotos) in Wien einen Besuch abgestattet hat.

Keine Klingel, keine zweite Bremse, keine Reflektoren an den Laufrädern – wer mit diesem Fahrrad in ein Planquadrat der Polizei gerät, darf ordentlich zahlen. Und das sollte er oder sie auch brav tun, denn andernfalls kommt der Ordnungshüter noch auf die Idee, zum Streifenwagen zu eilen und das Sturmgewehr herauszuholen.

Für den Straßenverkehr ist diese abgespeckte Variante des Fahrrads freilich auch gar nicht gedacht. Sondern zum Spielen. Für Bikepolo.

Polo – dieses Wort dürfte jeder schon einmal gehört haben. Das ist jener etwas extravagante Sport, der vor allem in Großbritannien gepflegt wird: Die Spieler_innen, hoch zu Ross, versuchen mittels eines Schlägers den Ball im gegnerischen Tor unterzubringen. Bei Bikepolo geht es um genau dasselbe, nur dass die Spieler_innen hier auf einem Fahrrad sitzen. Es ist gleichsam die technokratische oder proletarische Form des traditionsreichen Spiels.

Auf der Schmelz. Hier in Wien-Fünfhaus, auf dem Sportgelände des ASKÖ, treffen sich jeden Mittwoch (von 17 bis 21 Uhr) und Sonntag (von 14 bis 18 Uhr) die Bikepolo-Spieler_innen von Wien. Männer und Frauen, viele tätowiert, alle radaffin.

Stimmt vielleicht.

Bikepolo kam Ende des 19. Jahrhunderts in England auf. Initiiert von Frauen, denen es nicht gestattet war, aufs Pferd zu steigen. So erzählt man es sich zumindest. Vielleicht stimmt die Geschichte, vielleicht auch nicht. Als gesichert gilt hingegen, dass dieser Sport in den 1980er-Jahren von Fahrradkurier_innen in New York (re-)aktiviert wurde. Nach der Arbeit wollten sie auch noch ihren Spaß haben. Ein Spaß, der sich nun auch in Europa immer mehr ausbreitet.

Jeden ersten Mittwoch im Monat ist bei den Wiener Bikepolo-Spieler_innen Anfänger_innentag. Wer will, kann einmal so ein spezielles Rad ausprobieren. Ich will – und schon beim ersten Bremsen haut es mich fast kopfüber. Dieses Fahrrad hat zwar nur eine Bremse – klar, in der anderen Hand hält man den Schläger –, doch diese Bremse hat es in sich. So wunderbar und unerbittlich greift sie, dass das Vorderrad augenblicklich zum Stehen kommt.

Was längst in Fleisch und Blut der Routinierten übergegangen ist, haben die Anfänger_innen erst zu lernen: Diese Bremse ist anders zu handhaben als die eines Alltagsrads, nämlich mit viel Gefühl. Dafür braucht man sich keinen Kopf ums Schalten zu machen – es gibt nur eine Übersetzung, eine kleine, mit der sich gut beschleunigen lässt.

Peru-Importe.

Einige dieser Räder sind selbst gebaut, andere aus Peru importiert, wo es einen der wenigen auf Bikepolo spezialisierten Hersteller gibt.

«Den Kopf oben halten!», ruft mir einer der erfahrenen Radler_innen zu, der kurzerhand das Anfänger_innentraining übernommen hat. Jetzt fällt es mir selbst auf: Bei dem Versuch, den kleinen Kunststoffball mit dem Schläger zu führen, ist mein Blick starr nach unten gerichtet.

Bei diesem Sport ist recht viel auf einmal zu machen: das Rad lenken, den Ball führen, sowohl Mit- als auch Gegenspieler_innen im Auge behalten und obendrein Tore erzielen, wozu im Übrigen nur die schmale, nicht die breite Seite des Schlägers benutzt werden darf. Kein Wunder, dass gerade Anfänger_innen ob dieser Menge leicht ins Straucheln geraten. Und die erfahrenen Spieler_innen bestätigen es auch: Zu Beginn kämpft man mehr mit sich selber als mit den Gegner_innen.

Ein Spiel ist zu Ende gegangen. Neue Spieler_innen betreten den Platz – und werfen ihre Schläger auf den Boden. Einer von ihnen sammelt sie wieder ein und mischt sie hinter seinem Rücken. Dann wirft er sie erneut zu Boden, drei auf die eine, drei auf die andere Seite. Das übliche Ritual, um zwei Mannschaften zu bilden. Darauf heißt es: «Get ready». Die beiden Mannschaften stellen sich an der Bande hinter ihrem Tor auf, der Ball liegt in der Mitte. Auf den schießen die Spieler_innen mit dem Startzeichen los. Ein Spiel dauert zehn Minuten, hier auf dem Platz, der sonst von Inlinehockeyspieler_innen genutzt wird.

Wer fällt, fällt hart.

Gespielt wird nämlich auf Asphalt. Die meisten tragen Handschuhe sowie Knie- und Ellbogenschützer. Dazu einen Helm, vorzugsweise mit Gesichtsschutz, denn im Eifer des Gefechts kann ein Schläger leicht, wenngleich unbeabsichtigt, im Gesicht des Gegenübers landen.

Das Fußballspiel kennt den Freistoß. Hier hat ein Spieler oder eine Spielerin im Fall eines Regelverstoßes – wozu nicht zuletzt gehört, mit dem Fuß auf den Boden zu kommen – sich auf Höhe der Spielfeldmitte an der Bande abzuschlagen, sich also für einen Moment aus dem Spiel zu nehmen.

Zimperlich darf nicht sein, wer sich für diesen Sport entscheidet. Die eine oder andere Schürfwunde gehört am Anfang mit dazu. Anna, eine Studentin aus Deutschland, verzichtet mittlerweile ganz auf Schützer. Mit der Zeit kommt die Erfahrung und damit auch die Sicherheit.

Miguel setzt auf Klickpedale, auf jenen Mechanismus, bei dem Schuh und Pedale fest miteinander verbunden sind. Im Fall eines Sturzes kann das zwar heißen, mitsamt dem Fahrrad durch die Luft zu fliegen, doch wer mit seinem Gefährt auch hin und her hüpfen möchte, um etwa einen Torschuss abzuwehren, ist mit Klickpedalen gut bedient. Miguel ist mit seinen 51 Jahren einer der Älteren. Viele seiner Mitspieler_innen könnten vom Alter her seine Kinder sein.

Ein Sport mit hohem Lässigkeitsfaktor. Die einen spielen mit freiem Oberkörper, andere im bunten Trikot. In der Pause drehen sie sich eine Zigarette und stärken sich mit Dosenbier. Ein Hauch von Anarchie liegt über dem Sportplatz. Es ist eine andere Welt als die, in der Miguel zuletzt gearbeitet hat: das Kanzleramt.