Bibliotick: Schreiben als FreiheitArtistin

Immer geht sie allein durch fremde Gassen / der kleinen Stadt und niemand spricht sie an / in ihrer Sprache, die hier keiner kann, / die keiner liebt hier und die manche hassen.Marie Tidls Gedicht Das fremde Mädchen, dessen erste Zeilen hier zitiert sind, beschreibt ebenso einfühlsam wie treffend die existenzielle Erfahrung des Fremdseins aus der Außensicht, trotzdem weder kühl distanziert noch herablassend mitleidig. Eine Anmerkung zu dem vierstrophigen Text informiert, dass die Autorin in Klammer zum Titel «Ostarbeiterin» hinzugefügt hat. Das erklärt, welche Erfahrung, Beobachtung Anlass zur Entstehung des Gedichts gaben, inhaltlich jedoch geht es um immer noch Aktuelles.

Das fremde Mädchen ist einer von rund drei Dutzend Prosa- und Lyriktexten Marie Tidls, die im Band Frieden, Freiheit, ­Frauenrechte! wieder- bzw. erstveröffentlicht wurden. Georg Tidl, Sohn der 1995 verstorbenen Autorin, Pädagogin und in der KPÖ politisch Aktiven, verfasste die Biografie seiner Mutter, die etwa die Hälfte des Buchs umfasst, und wählte Beispiele ihrer literarischen Arbeiten aus ihrem umfangreichen schriftlichen Nachlass. Als Schriftstellerin blieb Marie Tidl weitgehend unbekannt, Verlage scheuten sich ihre Werke herauszubringen. Schuld daran war sicher ihre Parteizugehörigkeit, die auch ihrer schulischen Karriere entgegenstand. Einige ihrer Geschichten wurden in Zeitungen wie der Volksstimme oder der Stimme der Frau abgedruckt, meist unter Pseudonymen. Dass Marie Tidl neben ihrer Arbeit als engagierte (und beliebte) Gymnasialprofessorin, der politischen Tätigkeit und ihrer Familie Zeit und Energie fürs Schreiben fand, ist erstaunlich. «Beim Schreiben konnte sie ihre Freiheit, die sie so sehr liebte und die sie so gern allen Menschen auf Erden gegeben hätte, ganz genießen», schreibt Sohn Georg «Sie musste beim Schreiben nicht Rücksicht nehmen auf Direktoren-Anweisungen, einengende Lehrpläne, karrieregeile Funktionäre, und kleinkarierte Politiker.»

Georg Tidl: Frieden, Freiheit, Frauenrechte!

Leben und Werk der österreichischen Schriftstellerin Marie Tidl 1916–1995

Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2018

274 Seiten, 24 Euro

Marie Tidl im AUGUSTIN:

Georg Tidl: «Enttäuscht von der Führung der Sozis. Marie Wendl-Hofmann-Tidl – Hommage an eine Nichtbeachtete» AUGUSTIN Nr. 419, 31.8. 2016

Marie Tidl (Ps. Maria Wendl): «Saisonbetrieb» AUGUSTIN Nr. 419, 31.8. 2016

Marie Tidl «Vater mit kleinem Fehler» AUGUSTIN Nr. 426, 5.12. 2016

Marie Tidl «Das Guguh» AUGUSTIN Nr. 440, 4.7. 2017