Das Zuchthaus in der Leopoldstadtvorstadt

«Labore et fame» statt Frühstücksglück: Von 1671 bis 1888 war am heutigen Karmelitermarkt ein Ort des Schreckens. Von Anton Tantner

Nichts erinnert mehr an die düsteren Geschehnisse am Ort des Zucht- und Arbeitshauses in der Leopoldstadt: Dort, wo während eines Zeitraums von zweihundert Jahren mal zusammengefangene Vagabund_innen und Prostituierte zusammengepfercht auf ihre Abschiebung über die Donau ins ferne Banat warten mussten (siehe Augustin Nr. 459), mal «ungerathene Kinder» mit Ochsenziemern geprügelt und verurteilte Delinquent_innen bei Peitschenstrafe zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden, kann heute die Klientel des Karmelitermarkts pfiffige Frühstücks- und Kaffeekreationen genießen. Deren Bezeichnungen sind perfekt der gentrifizierten Umgebung angepasst, während das eine Lokal etwa Bio-Amaranth-Früchtemüsli oder warmen Frühstücksbrei nach den 5 Elementen samt TCM-Espresso mit Kardamom im Angebot hat, werden nebenan Yogiber-Waffel mit Karmelatte serviert.

Arbeit und Hunger.

Die Diskrepanz zum Schrecken von einst könnte größer nicht sein, denn das Motto, das über dem Eingang des 1888 abgerissenen Zuchthauses prangte, lautete auf Latein: «Labore et fame». Arbeit und Hunger sollten demnach die Insass_innen begleiten, die Inschrift brachte unverfroren zum Ausdruck, dass der lange Weg der Gewöhnung der Bevölkerung an regelmäßige Lohnarbeit nicht zuletzt von Zwang und Terrorandrohung begleitet war – rohe Bürgerlichkeit und Klassenkampf von oben wurden mitnichten erst von neuer ÖVP und Neos erfunden.
Errichtet worden war die im Laufe ihrer Existenz immer wieder erweiterte und umgebaute Anlage ab dem Jahr 1671, die kurz zuvor erfolgte Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus Wien hatte den nötigen Platz dafür geschaffen. Wie in derlei Einrichtungen in der Frühen Neuzeit üblich, waren die dorthin eingewiesenen Personen zunächst wild durcheinandergemischt: «Herrenlose Bettler, trutzige Dienstbotten mann- und weiblichen Geschlechts, unbändige Handwercks-Pursch neben andere schlimmen Gesindl», nicht zuletzt «leichtfertige Weibs-Persohnen» wie auch derselben Kupplerinnen sollten gemäß der Gründungsresolution hier zur Räson gebracht werden. Eine spätere Quelle fügte dieser Aufzählung noch all jene, die «ein ruchloses üppiches Leben führen» oder ungehorsam gegen ihre Eltern waren, «leichtfertige Schlenckelen, kleine Diebe und Beutelschneider» hinzu; kurz: alle «Liederliche und Unbändige», sollten hier «mit Schlägen … tractirt werden».
Untergebracht werden konnten in der Leopoldstadt zunächst 200 solcher Elender, nach Erweiterungen um die 500; sie hatten Textilien zu erzeugen, Holz zu schneiden oder Bauarbeiten zu erledigen. Wer die verlangte Arbeitsleistung nicht erreichte, wurde mit Kürzungen der Essensration bestraft. Die Gefangenen standen unter militärischer Bewachung und wurden Schaulustigen wie wilde Tiere vorgeführt: Eintrittskarten für eine solche Zuchthausbesichtigung – dark tourism avant la lettre – konnten bei der k. k. Polizeioberdirektion gelöst werden.
Dass die Inhaftierten durch ihren Aufenthalt im Zuchthaus ganz im Gegensatz zur hochtrabenden Rhetorik der Obrigkeit nicht besser wurden, kritisierten spätestens die josephinischen Aufklärer: Das Bewusstsein, dass Gefängnisse ein «Teufelseminarium» (so der Schriftsteller Johann Rautenstrauch 1783), eine «Pflanzschule der Verbrecher» (Joseph von Sonnenfels 1784) beziehungsweise «Kasernen des Verbrechens» (Foucault 1975) darstellen und Delinquent_innen produzieren, war bereits im 18. Jahrhundert vorhanden. Im Unterschied zu Michel Foucault, dem Autor von Überwachen und Strafen, fehlte da höchstens die Einsicht, dass eine solche Fabrikation von Kriminellen durch das Gefängnis durchaus gewollt war, zwecks Ablenkung von «den ungesetzlichen Gewinn- und Macht-Schleichwegen der herrschenden Klassen» und als Drohkulisse für den Rest der Bevölkerung, sollte diese doch zu rechtschaffener Arbeit in Ehrfurcht vor Gott, Vaterland und Kapital angehalten werden.

Good-Mood-Shake.

Allerdings, bei diesem Fazit darf nicht innegehalten werden, denn nicht nur Foucault-Leser_innen wissen: Wo Macht herrscht, wächst auch Widerstand. Zwar berichten die Historiker_innen des Leopoldstädter Zuchthauses angesichts größtenteils vernichteter Quellen gerade mal von ein paar blasphemischen Handlungen der Insass_innen, doch sollten die wirklich spannenden Fragen zumindest gestellt werden: Wie viele Revolten gab es in der Leopoldstadt? Wie verliefen die Aufstände der Züchtlinge? Wie organisierten sie Verweigerung und Streiks? Waren ihre Kämpfe um Verbesserungen der Haftbedingungen und Erhöhung der Entlohnung zuweilen auch erfolgreich? – Was könnte ein besserer Ort sein, diese Fragen in sich versunken zu bearbeiten oder aber in ungestümen Gesprächen mit Freund_innen zu erwägen, als am einstigen Ort des Geschehens, bei einem Good-Mood-Shake oder einem Bio-Blüten-Kräutertee?

Bild: Das Zuchthaus wurde von Friedrich Leybold in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Aquarell gemalt. Hier als Schwarzweiß-Foto wiedergegeben, das Original befindet sich im Wien Museum