Die Briefe des „Deutschen“tun & lassen

Briefe an den Vater

Nach langer Zeit gehe ich wieder in ein Konzert. Es spielt eine bulgarische Jazzgruppe. Ich tanze. Anschließend wird Balkan-Musik aus der Dose gespielt. Gegen 5 Uhr verlasse ich das Lokal. Über den Schwarzenbergplatz und den Ring komme ich gegenüber der Oper an. Es hat viel geregnet. Über das nasse Grün gehe ich weiter. Eine Bratwurst bestelle ich. Bei diesem Würstelstand wird auch Pizza und Kebap verkauft. Die beiden in der Würschtelbude sind aus meiner Stadt. Wir plaudern ein bisschen. Sie sind seit zwei Jahren in Österreich.Gegen 5.30 Uhr mache ich mich auf den Weg. Durch die Opernpassage gehe ich Richtung U4. In der Opernpassage sind sehr viele Obdachlose. Links, rechts schlafen sie mit ihrem ganzen Hab und Gut. Sie schlafen tief. Außer ihrem Schlaf kann man ihnen nichts wegnehmen. Ich aber, mit Knoten im Magen und in der Seele, schlendere Richtung U-Bahn. Wach bin ich. Kein Schlaf. Tausende Sachen gehen mir durch den Kopf. An meine Kindheit denke ich. Seit 25 Jahren bin ich in dieser Stadt. Immer noch ist alles vertraut. Es wird Morgen sein. Viele Menschen werden wieder aneinander vorbeigehen. Jeder versunken in eigenen Gedanken. Ohne Notiz von nebenan zu nehmen. Jeder wird seine eigene Last mit sich herumführen. Als ob die eigene Last das ganze Hab und Gut von einem wäre.

In meiner Kindheit war ich einsam. So bin ich auch jetzt einsam. Nur die Orte haben sich geändert, und ich bin ein bisschen älter geworden. Vater, du hast immer von Wien geschwärmt. Uns hast du immer erzählt, wie schön Wien doch sei. Wie gerecht hier die Menschen seien usw. Hier gibt es genau so viele Sklaven. Eben auf eine andere Art. Hier gibt es genau so viele Menschen, die unglücklich sind. Hier gibt es genau so viele Menschen, deren Kindheit nicht so verlaufen ist wie deine und meine. Aber nein, du musstest das Ganze noch mit deinen tollen Fotos, die du uns geschickt hast, schmücken.

Du hast mit 7 Jahren deine Mutter an jemand anderen im Nachbardorf verloren. Meine Großmutter hat nämlich wieder geheiratet. Du bist bei deiner älteren Schwester geblieben. Du warst immer ein stolzer Mensch gewesen. In deiner Kindheit warst du fleißig. Du hattest keinen Vater mehr. Plötzlich bist du ein Waisenkind geworden. Keinem konntest du mehr über deine innere Welt erzählen. Du musstest immer schweigen. Bis heute. Wobei mir ich deine Geschichten sehr gern anhören würde, um dich besser verstehen zu können. Leicht ist es für dich sicherlich nicht gewesen. Dafür hast du es mir auch nicht leicht gemacht. Dein Traum war, dass ich arbeite, mein Geld spare und am Naschmarkt ein Geschäft aufmache.

Es ist gegen 6 Uhr. Nach einer Station bin ich in der Kettenbrückengasse, wo der Flohmarkt ist. Am Flohmarkt warst du auch in den letzten Jahren vor deiner Pensionierung sehr oft. Als ich dort ankomme, erinnere ich mich an dich, an deine Kindheit, an meine Kindheit. Immer haben wir auf deine Briefe gewartet. Wenn jemand in die nächste große Gemeinde gefahren oder zu Fuß gegangen ist, haben wir ihn nach deinen Briefen gefragt. Die hast du immer an ein Lebensmittelgeschäft dieser Gemeinde adressiert: Hozat Fecire Emir Cigirlidorf. Deine Briefe haben immer mit ziemlicher Verspätung zu uns gefunden. Deine Briefe haben wir einmal im Monat bekommen. Deine Briefe zu entziffern war ziemlich schwer. In jedem war auch ein Foto drinnen. All deine Fotos waren in Farbe. Das war für uns sehr imposant.

Für dich habe ich mich sehr gefreut, dass du in so einem Paradies lebst. In unserem Dorf warst du der Hidir, der Almanci (der Deutsche), der angesehene Mann aus Deutschland. Weil die Leute nicht wussten, wo Österreich liegt. Alle, die im Ausland arbeiteten, waren Almanci, also die Deutschen. Ich war der Sohn eines Deutschen. Aber keiner fragte mich danach, wie es mir geht. Ich war eben der Sohn eines Deutschen, dem es nur gut gehen sollte. Natürlich wurden die Fotos allen gezeigt, den Verwandten, den Leuten aus dem Dorf. Anschließend wurden sie in einer Ecke des Wohnzimmers ohne Rahmen an die Wand gepickt. Wenn Leute reinkamen, schauten sie sich auch deine Fotos an, mein lieber Vater.

Nie vergessen werd ich das Bild, wo du dich vor einer Statue hast fotografieren lassen. Jetzt weiß ich es, vor dem Belvedere gibt es diese Statuen. Halb Frau, halb Löwin. Als ich das Foto gesehen habe, war ich sehr erstaunt. Dass es so etwas Fantastisches auch geben kann. Und mein Vater ist dort, wo es solche unglaublichen Dinge gibt. Deine Kleider waren die eines Bankdirektors. Dir hat man überhaupt nicht angesehen, dass du ein Gastarbeiter bist. Mit diesen Fotos hast du es bewiesen, du bist wirklich ein Almanci (ein Deutscher). Man zeigte auf uns, deine Kindern mit dem Finger. Das sind Almanci-Kinder. Wir alle glaubten, es sei für dich sehr leicht in diesem Land, Geld zu verdienen.

Du warst in jungen Jahren sehr fleißig. Auch wenn du die Tiere auf die Berge zum Weiden geführt hast, hast du am Rücken hinter den Tieren auch Holz geschleppt. Mit 14 bist du in die Westtürkei gefahren, um in den Bergwerken zu arbeiten. Du erzähltest mir, wie verlaust du warst. Das alles hast du erlebt. Dafür habe ich in meiner Kindheit andere Sachen erlebt. Ohne Vater bin ich aufgewachsen. Alleine bin ich immer auf die Maulbeerbäume geklettert. Es waren nur Vögel neben mir auf den Ästen.

Dein Sohn Memo