Erika die Erstevorstadt

Baubranche ist für Frauen offen

Wer durch die Hölle gegangen ist, hält sich nicht mehr mit Sperenzchen auf. Nina Strasser (Text & Fotos) hat die einzige Kranführerin Österreichs besucht.

Kaum hat sie mit ihren Sicherheitsschuhen Größe 43 die Schwelle zur Baustelle übertreten, zieht Erika Wieser einen Stapel Din-A4-Blätter aus ihrem Stoffsackerl. Vier Bauarbeiter befinden sich in Hörweite, als sie mit den Unterlagen wedelnd ruft: «Das da durchlesen!» Am Vortag habe sie Schlampigkeiten am Bau geortet, nur durch ihr Eingreifen habe ein größerer Schaden verhindert werden können. Der Inhalt des Zettelwerks, das sie am Vorabend zu Hause ausgedruckt hat: die Funktionsweise eines Baukrans und die dazugehörigen Sicherheitsvorschriften. 54 Jahre zählt die gebürtige Steirerin, über 30 Jahre arbeitet sie auf dem Bau. Widerstände zu überwinden – die Paradedisziplin der einzigen Kranführerin Österreichs. «Für Sperenzchen», sagt sie, «bin ich nicht aufgelegt.» Einer der vier Kollegen nuschelt einen Einwand. Das übertönt sie mühelos: «Das ist mir wurscht! Gelesen wird! Sofort!» Je ein Schrieb wechselt von der manikürten Hand in eine hornhäutige. 6.35 Uhr, Baustelle Gymnasiumstraße 24: Männer studieren Unterlagen. Die Frau beginnt ihr Tagwerk.

Baukran-Amulette.

114 Sprossen führen zum Arbeitsplatz der Kranführerin, 35 Meter misst die Leiter, Neigungswinkel 180 Grad. Die Ärmel des geblümten Oberteils spannen an den Bizepsen, der Rock entblößt die Knie. «Von unten gibt es nichts zu sehen», ruft sie beim Klettern den Arbeitern zu. Brennen Lungenflügel oder Unterarme, muss Erika Wieser kurz Pause machen. Für die Besteigung des höchsten Krans ihrer Karriere, 162 Meter maß das Teil, habe sie fast 45 Minuten gebraucht. Den Turmdrehkran Liebherr 71 EC bezwingt sie in etwas mehr als zehn Minuten. Kurz vor sieben Uhr lässt sie in der Kabine ihre Siebensachen fallen und sich selbst. Mit der linken Hand steuert sie die Musik-Playlist am Telefon, mit der rechten steuert sie den Kran. Von unten lächelt Christian Kern als Aufdruck ihres Stoffsackerls, hinter ihr drängen sich Plastikflaschen – jeweils mit Urin befüllt. Für kleinere Geschäfte steigen Kranführer_innen nicht extra ab.

In jede Richtung lässt sich der 25 Meter lange Kranarm von ihr schwenken, vor und zurück steuert sie die sogenannte Katze. An dieser baumelt das Hubseil hinunter zu den Bauhacklern. Fünf Tonnen Material oder einen afrikanischen Elefantenbullen könnte der Liebherr 71 EC theoretisch heben. Um punktgenau abzusetzen, brauchen Kranführer_innen Gefühl und Augenmaß; vor allem aber freie Sicht. Darum bürstet Erika Wieser mit einem Beserl die Glasscheibe am Boden vom Baudreck frei. Gesenkten Hauptes späht sie in die Tiefe, Kreuzschmerzen sind Berufskrankheit. «Man hat es als Kranführerin leichter als die da unten», sagt sie, «leicht hat man es deshalb aber nicht.» Von Schwierigkeiten in ihrem früheren Leben wird sie später noch berichten. Weil sich jetzt der Magen meldet, wickelt sie ihr Frühstück aus.

Hackler-Etikette.

«Bitte Schalungsmaterial auf das Podest. Danke», meldet sich das Funkgerät, da ist die Zimtschnecke halb verspeist. «Bitte, danke», sagt Erika Wieser, «ist auf der Baustelle kein normaler Umgangston. Zu einer Frau aber sind die Männer höflich.» Sie selbst vergisst auf Etikette, als ein Bauarbeiter unten beim Fixieren eines Stahlträgers patschert scheint. Erst brüllt sie Anweisungen durch ein Fenster in die Tiefe, dann lässt sie die Hupe sprechen. «Durchsetzen», sagt sie, «sollte sich eine Frau schon können.» Mit dem Kranführer, so heißt es im Bauhackler-Jargon, steht und fällt der Bau. Urgieren mehrere Arbeiter gleichzeitig einen Hub, gilt es zu entscheiden, welcher Arbeitsschritt gerade Vorrang hat. Affenhitze, Eiseskälte, Blitzeinschläge – nichts davon bringt sie aus der Ruhe. Doch bläst der Wind über fünf Sekunden lang stärker als 73 Stundenkilometer, steigt die 54-Jährige vorschriftsmäßig in der Sekunde ab.

Andere Firma, anderer Ort und viele Jahre früher: Zwei Kräne waren im Einsatz, die Baustellenleitung pausierte aber. So blieb die Warnung vor einem Wetterumschwung aus. Die Böe maß 120 Stundenkilometer, die einen Kran zu Fallen brachte. Erika Wieser reagierte instinktiv und wich mit ihrem Kranarm dem stürzenden Kollegen aus. Die Verschalung, die am Seil ihres Krans baumelte, riss zwei Arbeiter in die Tiefe. Am Ende waren drei Menschen tot. Sie konnte sie von oben sehen. Zwar befand das Gericht, der Unfall sei nicht die Schuld der Kranführerin gewesen, arbeiten konnte sie durch den Schock aber vier Jahre lang nicht. Schließlich habe sie sich doch überwunden, weil sie am Bau ganz gut verdiene. «Bauchweh habe ich gehabt», sagt die Steirerin über ihren Neuanfang.

Arbeiterinnen-Toilette.

Kranführer_innen mit Routine sind in der warmen Jahreszeit gewöhnlich heiß begehrt. Wer eine Fachkraft sucht, fragt etwa bei Alminko Dugić nach. Kran Wien heißt die Plattform, über die er Erika Wieser in die Gymnasiumstraße vermittelt hat – und der er heute einen Besuch abstattet. Weil die Frau noch in der Höhe hackelt, spricht er mit zwei Männern in Containern sitzend. Polier Herbert Schlögl und Bauleiter Jakob Mersich, versichern dem 32-jährigen Unternehmer beide: «Wir haben kein Problem mit einer Frau.» Bei den Arbeitern, so formuliert es ersterer, seien Personen des anderen Geschlechts grundsätzlich stets gern gesehen. Zumal sie, meist handelt es sich um zeitbegrenzte Handwerkerinnen, irgendwann ja wieder gingen. An Erika Wieser, die als Kranführerin «zum Inventar» gehöre, «mussten sie sich aber erst gewöhnen.» Man sei überaus zufrieden, sagt der Baustellenleiter. Verlässlich sei sie, erfahren. Unlängst sei sie im Krankenstand gewesen. «Da haben wir sie sehr vermisst.» Bei der Firma Swietelsky stünde die Männerwelt für Frauen offen. Nur ein Damenklo fehlt, so scheint es, zur Perfektion. Das hat niemand eingefordert. Erika Wieser ist Schlimmeres gewohnt.

Vor fünf Jahren ereilte die Steirerin eine schwere Lebenskrise. Aggressionen folgten der Depression, keiner hielt sie am Bau noch aus. So könne es nicht weitergehen, sagt ihr die damalige Chefin und schickte sie zur Psychotherapie. Dort war die Ursache schnell gefunden: Wieser, die damals einen männlichen Vornamen trug, steckte im falschen Körper. Im Alter von fast 50 Jahren begann sie eine Hormontherapie und ließ in allen Dokumenten das Geschlecht und ihren Namen ändern. Nur die Kollegen wussten noch nichts davon. An einem dieser Morgen, kurz nach 6.30 Uhr in der Früh, trat sie 20 Männern gegenüber, fischte Folder aus dem Stoffsackerl. «Lest das durch», sagte sie und legte Broschüren auf einen Tisch. Darin geschrieben waren Infos über Transgender-Menschen. «Jeder sagt mir, wenn er damit ein Problem hat», befahl sie in die Runde, um dann den rätselnden Gesichtern noch eine Antwort zu servieren: «Denn ich bin eine solche Person.»

Karriere-Facette.

Probleme sprach zwar niemand an, doch nach einem langen Krankenstand aus anderen Gründen wurde sie von dieser Firma nie mehr beschäftigt. Ihre Hormone spielten außerdem verrückt, der Körper rebellierte. Am 28. November 2016 folgte die anpassende Operation. «Durch die Hölle bin ich gegangen», sagt Erika Wieser heute. «Jetzt bin ich endlich, was ich bin.»

Als SPÖ-Parteischulen-Absolventin plant sie 2020 bei den Gemeinderatswahlen im 15. Bezirk anzutreten. Für Gleichberechtigung aller Geschlechter will sie kämpfen und für mehr Frauen auf Baukränen: «Auffi mit euch!» So lautet ihre Message. «Trauts euch etwas zu, egal, was andere dazu sagen!» Von solcherart Sperenzchen solle sich niemand aufhalten lassen.

 

Eine Ausbildung am Turmdreh- und Auslegerkran können Frauen wie Männer bei einem der Bildungsinstitute WIFI und BFI absolvieren. Das Einstiegsgehalt beträgt laut AMS etwa 2200 Euro brutto monatlich. Überstunden sind erwünscht und (noch) gut bezahlt. Bis zu zwölf Stunden dauert eine Schicht, auch in der Nacht. Im Sommer sind Kranführer_innen gefragt, im Winter heißt es meist stempeln gehen.

Die Arbeit birgt Gefahren für sich und andere. Zwischen 2013 und 2017 passierten laut AUVA 1102 Unfälle in Zusammenhang mit einem Bau- oder Laufkran, vier davon endeten tödlich. Zwei der Toten waren die Kranführer selbst. Vor Kurzem verstarb in Wien ein Kranführer. Seine Leiche wurde erst tags darauf entdeckt.

Bauberufe sind männlich dominiert; der Frauenanteil liegt bei rund 13 Prozent. Weder der Gewerkschaft noch der Arbeiterkammer, der Wirtschaftskammer oder der Bauinnung liegen konkrete Zahlen über Baukranführerinnen vor.

Weitere Infos: www.kranwien.at