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Altbaukriterium – ein Fahrradrennen in einer Wohnung. 

Wie riesig muss eine Behausung sein, damit sich das Radeln darin auszahlt?

Hannes Gaisberger (Text) und Ruth Weismann (Fotos) berichten von

der Rennstrecke.

In meiner Fantasie erwartet mich ein schnöseliger Event in einer Leerstand-Luxusimmobilie (Zweitpraxis oder -kanzlei), bei dem man auf dem Weg vom Klo ins Bad von zugekoksten Jus-Studenten niedergemäht wird. Diese Vorstellung war grundlegend falsch – bis auf die tatsächlich prekäre Situation für Flaneure entlang der Rennstrecke.

Eine herkömmliche Wohngemeinschaft ist offensichtlich groß genug, wie sich an einem Samstagnachmittag im dritten Bezirk zeigt. Die WG ist in den Gängen und in mehreren Zimmern am Boden und teilweise an den Türstöcken mit Karton verkleidet. Da und dort sind Möbel an den Rand gerückt. Das Publikum zieht sich in die Ecken oder gleich in die Küche zurück. Die hektischste Phase kommt gleich am Beginn: das Aufwärmen. Mehrere der insgesamt 15 Teilnehmenden inspizieren den Kurs auf ihren Rennmaschinen. Zwischen einem Laptop und einer Zeitmessanlage sitzt einer der Erfinder des Kriteriums, der unter dem Namen buRn hArD auch selbst am Start ist. Sämtliche Altbaucyclisten – darunter zwei Cyclistinnen – treten unter Pseudonymen an. Eine Gewohnheit, die aus der Fahrradbot_innenszene übernommen wurde.

buRn hArD komplettiert gerade die Nennliste, gibt die Startnummern aus, testet die Zeitnehmung, nippt an seinem Bier und hat trotzdem Zeit, ein paar erste Fragen zu beantworten. «Das ist heute bereits das 82. Rennen in der achten Weltcupsaison. Wir sind auf zwei Kontinenten und in sechs Ländern gefahren.» Ein guter Teil der Veranstaltungen sei aber im Großraum Graz über die Bühne gegangen, wo die Idee 2010 geboren wurde. «Ich hatte damals gerade ein wunderschönes, altes Peugeot-Rad restauriert. Aber das Wetter war zu schlecht, um es draußen auszuprobieren. Also sind wir in der Wohnung gefahren.» Danach kamen Stationen wie München, Berlin, London und Toronto. Nicht zuletzt, weil es nicht in allen Städten WGs in Altbauten gibt, ist man natürlich auch an anderen Orten geradelt. «In London war es ein ehemaliges Altersheim, da haben wir die Rollstuhlrampen in den Kurs eingebaut. In München ein Studentenwohnheim mit endlosen Gängen, und in Heerlen in den Niederlanden sind wir in einem vierstöckigen Großkaufhaus angetreten», zählt buRn hArD nicht ohne Stolz internationale Highlights auf. «Am lustigsten ist es aber in Wohnungen.»

Um eine Kiste Bier.

Wie muss denn eine Behausung geschnitten sein, damit sie sich als Austragungsort eignet? «Im Idealfall ist ein Rundkurs vorhanden. Wenn die Strecke zu leer und gerade ist, kann es zu schnell werden und die Verletzungsgefahr steigt. Wir versuchen daher, immer einen schnelleren und einen langsameren Teil einzubauen», sagt buRn hArD, bevor er seiner Rolle als Rennleiter nachkommt und eine Streckenbegehung und Regelunterweisung vornimmt. Diese sind leicht erklärt: Man hat zwei Minuten Zeit, in denen man so viele Runden wie möglich absolviert. In einem zweiten Durchgang dasselbe in die Gegenrichtung. Bei Absteigen, Stürzen und anderen Vergehen gibt es Abzüge. Für den ersten Platz winkt eine Kiste Bier.

In dieser WG findet nach 2015 nun schon zum zweiten Mal ein Kriterium statt. Und zum letzten Mal, denn sie löst sich auf. Es herrscht familiäre Atmosphäre, hier sind großteils Freunde und Bekannte am Start. Die musikalische Untermalung bestreitet eine Playlist, in die ausschließlich Songs mit Radbezug eingespeist sind.

Aus dem lockeren Ambiente vor dem Start sticht ein in Schwarz gekleideter, konzentriert wirkender Radler namens Zorrro hervor. Er ist der Seriensieger schlechthin, niemand konnte derart viele Kriteriumstitel einfahren. Ich wage es, seine Vorbereitung zu unterbrechen und frage nach den ersten Eindrücken der heutigen Strecke. Da diese sehr kurvig sei, wären die Burschen mit den Swing-Bikes diesmal womöglich zu favorisieren. So ein Gefährt könnte man laienhaft als ein Fahrrad mit einem Scharnier bezeichnen. Es kann in der Kurve abknicken und macht damit extrem enge Radien fahrbar. Dass man sich so ein Gefährt selbst zusammenzimmert, ist Ehrensache. Zorrro, der früher Mountainbike-Rennen gefahren ist, hat seinen Drahtesel ebenfalls präpariert: mit einer ex­trakurzen Lenkstange, etwa in der Größe eines Salzstangerls. Auch dieses Tuning dient dazu, die verwinkelten Wohnungsstrecken leichter meistern zu können. Sowohl die Swing-Bikes als auch die Mini-Lenker seien im alltäglichen Straßenverkehr nicht besonders praktikabel, wie mehrere Starter bestätigten. Abgesehen von diesen Prototypen werden etliche schicke, ältere Modelle, aber auch stinknormale Markenräder gefahren. Ebenso bunt sieht es bei der Bekleidung aus. Straßenklamotten, coole Vintagetrikots und ein Gentleman-Biker mit Mascherl sind zu sehen.

Ab der Hälfte Stoßatmung.

Favorit Zorrro bevorzugt hingegen gedeckte Mountainbike-Kleidung. Doch nach dem Startschuss ist Schluss mit dem Understatement. Bereits im ersten Durchgang hängt er die Konkurrenz ordentlich ab. Während der Durchschnitt in den zwei Minuten acht oder neun Runden schafft, legt Zorrro gleich 13 Schleifen auf den Karton. Mit hochrotem Kopf und deutlich hörbarem Schnaufen distanziert er die Konkurrenz. Nach dem Erfolgsgeheimnis des Seriensiegers gefragt, analysiert buRn hArD, der auch als einer der Streckenposten agiert: «Er ist einfach total konzentriert, fängt langsam an und wird immer schneller. Bevor er einen Fehler macht, drosselt er das Tempo. Und nach einer Minute fängt er zu stoßatmen an, damit er genug Sauerstoff hat, um die Konzentration aufrecht zu halten.» Seine zurückhaltende Art und die offensichtliche Könnerschaft verhindern, dass jemand dem Abräumer Zorrro gram wäre. Die Kiste Bier, die ihm als Sieger des Rennens letztendlich wieder zufällt, teilt er mit den anderen Radelnden. Hätte der echte Zorro sicher genauso gemacht.

Dass nach acht Jahren und über 80 Rennen kein fetterer Preis eingefahren werden kann, liegt nicht zuletzt an der Nicht-Vermarktung der Veranstaltung. Obwohl der Sport zweifelsohne sehr foto- und telegen ist, findet man keine Banner oder sonstige Sponsoren. Das war nicht immer so, wie mir der Weltverband des Sports (vermutlich mit Sitz in Graz) auf Mail-Anfrage mitteilt. «Red Bull hat eine Zeit lang einen Kühlschrank und Zuckerwasser zur Verfügung gestellt. Als klar wurde, dass weitere Unterstützung nur mit dem Labeln der Rennen möglich wäre, haben wir die Kooperation dankend beendet. Lustigerweise gab es etwa zwei Monate danach ein BMX-Rennen von Red Bull in einer alten Villa.» Zufall oder nicht, dadurch hat sich der Sport über die Jahre bestens gehalten, und man hat auch nach acht Jahren und 82 Rennen noch das Gefühl, bei der Umsetzung einer WG-Schnapsidee dabei sein zu dürfen.