Für ein Museum der Migrationtun & lassen

Verbrannter Holzelefant im Besitz des Musmig-Kollektivs (Foto: Archiv der Migration / Ljubomir Bratic)

Um die 200 Museen gibt es in Wien, ein Museum der Migration ist nicht darunter. Ein Aktivist:innen-Kollektiv eröffnet in einem symbolischen Akt das «Musmig» und lädt andere Museumsdirektor:innen – und Sie – ein, über seine reale Entstehung zu diskutieren.

Das Foto am Cover dieser Augustin-Ausgabe zeigt einen Ford Transit Kasten, aus der Online-Sammlung des Technischen Museums Wien. Die Beschriftung: «Schlepperauto».
Wie würden aber jene 22 Geflüchteten, die insgesamt 36.000 US Dollar für die Überfahrt damit vom Irak nach Österreich bezahlten, dieses Auto beschreiben? Würden sie es stattdessen «Fluchthilfe­auto» nennen, etwa in arabischer Sprache? Wer beschloss seine Aufbewahrung? Welcher Kontext der Geschichte wurde ausgewählt, welcher ausgelassen?

Migration statt Nation

In Wien gibt es kein institutionelles Migrationsarchiv, wie etwa in Tirol, in einer NGO angesiedelt, oder in Salzburg, an der Universität. Ein Museum, das sich ausschließlich dem Sammeln, Archivieren und Ausstellen von Migration widmet, gibt es noch immer nicht in Österreich, auch wenn viele Museen – mehr oder weniger bewusst – Migrationsgeschichte(n) aufbewahren. Nicht genug, sagt Elena Messner, weil «unsere Idee eines Museums der Migration auch eine Kritik an der Logik von traditionellen Museen und ihrer Unbeweglichkeit ist». Sie ist eine von vielen Aktivist:innen, die sich für das Museum der Migration «Musmig» stark machen. Das Musmig-Kollektiv bildete sich 2019 aus mehreren kleinen Projekten, für viele der Mitwirkenden ist die Forderung aber keineswegs neu.
Ihre Forderung nach einem eigenen Museum der Migration hat auch mit der Entstehung von Museen und deren Funktion bis heute zu tun, beschreibt ­Ljubomir Bratić, ebenso Teil des Kollektivs. «Mit der französischen Revolution kam die Demokratie, in der Folge wurde die Macht an das befreite Volk überführt. Es stellte sich aber die Frage, wer dazu gehört und wer nicht. So entstand die Nation. Die französische Nation ist unter anderem ein Erzeugnis davon, was im Louvre steht.» Da die Institution Museum von Anfang an mit der Nation verbunden ist, so Bratić, «ist ihre Perspektive immer eine nationale, auch wenn sie sich als nicht national ausgibt». Davon ausgehend: «Auch wenn Migration Thema in solchen Museen ist, dient das immer die Stärkung der eigenen Nation. Was wir mit Musmig wollen, ist eine andere Ebene schaffen, die genau das infrage stellt.»

Objekte, Subjekte

Ein gebrochener Spiegel aus einer Notunterkunft für Geflüchtete ist im Volkskundemuseum ausgestellt; die Handtasche der Wienerin, Jüdin und Widerstandskämpferin Anne Sussmann, die Auschwitz-Birkenau überlebte, im Bestand des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands DÖW; eine Schreibmaschine mit serbokroatischen Sonderzeichen für die Unterstützung von Gastarbeiter:innen bei Behördengängen ist Teil der neuen Dauerausstellung des Wien Museums; den Steirer-Hut von Hıdır Emir, der als Gastarbeiter in Wien selten seinen in der Türkei zurückgebliebenen Sohn Mehmet (heuteAugustin-Kolumnist) zu Gesicht bekam, stellt das Haus der Geschichte Österreich aus. Exponate, ausgewählt aus den Häusern als Objekte der Migration und Flucht von Direktor:innen selbst, die durchaus Migrationsgeschichten erzählen. «Natürlich ist Migration ein Phänomen, das in jedem Museum vorkommen muss, aber auch wenn das passiert, wird es nicht als solches geframet, zu wenig sichtbar gemacht, teilweise falsch kontextualisiert, verharmlost oder aus Herrschaftssicht erzählt», stellt Messner fest.
Eine Geschichte zu rassistisch motivierter Polizeigewalt erzählt das erste vom Musmig-Kollektiv gesammelte Objekt, das in einem Ottakringer Keller auf die reale Musmig-Eröffnung wartet. Ein verbrannter Holzelefant, der an ­Seibane Wague erinnert. Der mauretanische Student, im Wiener Stadtpark im sogenannten «Afrika-Kulturdorf» als Nachtwächter beschäftigt, erstickte 2003 von Sanitätern und Polizisten auf den Boden gedrückt. Eine Woche später brannte – durch gelegtes Feuer – die Gedenkstätte für Seibane Wague. Die Plattform für eine Welt ohne Rassismus rettete den Holzelefanten vor dem Verschwinden, bewahrte ihn auf und übergab ihn den Musmig-Aktivist:innen fast 20 Jahre später.
Es gehe nicht nur um eine andere Erzählung, sondern auch um Öffnung, sagt Messner: «Genauso denken wir das Musmig, als kollektiv, kollaborativ, antihierarchisch, anders gedacht und gemacht als ein reglementiertes Sammeln, wo Kriterien, Kataloge und Verwertbarkeit das Denken vorgeben.» Eine Öffnung, die sich nicht zuletzt auf die Institution selbst bezieht: «Ein Gegendenken zu traditionellen, hegemonialen Strukturen, wie: der Direktor, sein Team und dann das geschlossene Depot, so ungefähr.»
Darum soll sich das Musmig grundlegende Fragen stellen: Wer darf sammeln, sprechen, ausstellen? Für Bratić sind das «Fragen, die sich alle und überall stellen sollen», sonst sei das immer nur das Interesse von einer Person oder einer Gruppe. «Uns geht es darum, dass das Museum für alle da sein soll. Das ist die Ausgangsposition, an der wir arbeiten.»

Positionen anderer Museen

Diese Öffnung spiegelt sich in der Eröffnung des Musmig im Rahmen des diesjährigen Festivals Wienwoche wider. Mit zwei öffentlichen Veranstaltungen, die damit symbolisch das Musmig zum Leben erwecken. Seine Mitarbeiter:innen – über 40 Personen aus Kunst und Wissenschaft – versammeln sich zu einem Plenum, wählen unter ihnen ein Direktionsteam und laden daraufhin Direktor:innen acht Wiener Museen ein, um auf Basis der provokanten Frage Wer hat Angst vor dem Museum der Migration? über seine reale Entstehung öffentlich zu debattieren.
Ihre Positionen teilen die Direktor:in-nen im Vorfeld mit der Augustin-Leserschaft. Peter Aufreiter, Leiter des Technischen Museums Wien, begrüßt die Initiative und meint dazu: «Unterschiedliche Museen gewährleisten auch unterschiedliche Zugänge, je mehr desto besser.» Ebenso Monika Sommer, Direktorin des Haus der Geschichte Österreich, für sie ist außerdem «wichtig, zukünftig noch mehr als bisher mit Akteur:innen aus den Communitys zusammenzuarbeiten». So auch für Georg Hoffmann, den neuen Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums Wien, der zwar Migration in allen Museen als Querschnittsmaterie begrüßt, doch genug sei das nicht: «In Ausstellungen fragmentiert eingebettet verliert die Thematik an Sichtbarkeit und ist in ihrer Vielschichtigkeit nicht mehr zu erfassen.» Er attestiert: «Migration als Thema ist in den Sammlungen und Ausstellungen des Heeresgeschichtlichen Museums bislang nur sporadisch abgebildet.»

Das soll sich ändern, denn das Haus befindet sich aktuell «in einer Phase der Modernisierung, Veränderung und Öffnung, und Leitlinien dieser Weiterentwicklung», verspricht Hoffmann, sind «Multiperspektivität, Diversität und vernetzte Betrachtungen».
Barbara Staudinger, Direktorin des Jüdischen Museums Wien vergleicht die Relevanz eines Migrationsmuseums mit jener des eigenen Hauses: «Jüdische Geschichte ist zwar Teil der allgemeinen Geschichte, müsse jedoch in ihren Besonderheiten auch in einem eigenen Raum erzählt werden, in dem es nicht nur um das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zur jüdischen Minderheit gehe, sondern um jüdische Perspektiven. Damit nehmen Jüdische Museen quasi die Diskussion um die Sinnhaftigkeit von Migrationsmuseen vorweg.»
Andreas Kranebitter, seit April wissenschaftlicher Leiter des DÖW, kommentiert die Musmig-Entstehung ebenso mit einem Bezug zum DÖW selbst: «Ohne die Erfahrung von Exil(ierung) und Migration wären Museum wie Sammlung des DÖW zum Beispiel überhaupt nicht denkbar. Gleichzeitig heißt das für mich aber keineswegs, die Migration, deren historische Bedeutung nur von Rechtsextremen geleugnet werden kann, nicht in einem eigenen Museum zu zeigen und betonen.»
«Im Wien Museum hat das Thema oberste Priorität in der Sammlungstätigkeit», sagt Matti Bunzl, Direktor des Wien Museums, «und steht auch im Zentrum der neuen Dauerausstellung, die ab der Wiedereröffnung des Museums im Dezember zu sehen ist. Das heißt nicht, dass es deshalb kein Museum der Migration geben kann oder soll.»
Für Jonathan Fine, Direktor des Weltmuseums, sind zwar Veranstaltungen dazu wichtig, lieber verweist er aber auf «Migration und Diversität als zentrale Themen unserer Arbeit, die sich sowohl inhaltlich im Programm, als auch im Konzept der Schausammlung spiegeln».
Matthias Beitl, Direktor vom Volkskundemuseum Wien, bezweifelt, ob ein Museum das richtige Format für das «bewegende» Thema Migration ist. «Objekte kommen ins Museum, und so ist ihr Leben zu Ende. Relikte, Findings werden katalogisiert, kommen ins Depot und das entmenschlicht sie. Für Migration, finde ich, braucht es andere Formate ‹beyond Museum›, so wie jetzt Museum definiert ist. Wir sitzen in unseren Institutionen und reden mit uns selbst. Dabei braucht es – in Sachen Migration – Konfrontation, Diskussion, Einbindung von vielen Menschen außerhalb des Museums.»

Die Umsetzung der Utopie

Genau dieser «Diskursraum, der auch Ausstellungsraum ist», beschreibt Ljubomir Bratić, will das Musmig sein. Das Kollektiv hat sehr konkrete Vorstellungen von dessen Umsetzung. Zentral ist die Forderung nach einem eigenen realen Raum, in dem ein diverses Team autonom arbeitet. Ein bleibender Ort, mit einem öffentlich zugänglichen Depot, wo Deutsch nicht die Hauptsprache, sondern Mehrsprachigkeit die Norm ist und regionale Geschichte als eine globale Geschichte erzählt werden kann. «Es geht um ein mit der Welt vernetztes Museum», ergänzt Messner. Und das Musmig will im Zentrum der Macht stehen, in der Wiener Innenstadt. Warum, ist für Bratić kurz erklärt: «Es ist eine strategische Vorgehensweise, die wir verfolgen, nämlich genau dort zu sitzen, wo wir nicht weggedacht werden können.»

Museum der Migration – Das Plenum
16. 9., 10–18 Uhr
Aula der Akademie für Bildende Künste
1., Schillerplatz 3

Podiumsdiskussion Wer hat Angst vor dem Museum der Migration?
21. 9., Beginn 19 Uhr
Depot, 7., Breite Gasse 3
www.wienwoche.org/de/2023/festival-program/projekte/musmig
Eintritt frei, keine Anmeldung erforderlich.
Live Stream auf Radio ORANGE 94.0 unter
www.o94.at/player