Augustin 350 - 09/2013

Paradeiser für Detroit - und Staubsauger nicht?
«Die offizielle Arbeitslosenquote in Detroit beträgt 30 %, die wahre liegt bei ca. 75 %. Über Tausend ziehen heute pro Monat weg, die Bevölkerung ist um 60 % geschrumpft. Selbst das Zentrum ist fast menschenleer, und ganze Viertel sind reine Geisterstädte.
Vor den Armenspeisungen und Suppenküchen stehen lange Schlangen. 35 % des Stadtgebietes sind unbewohnbar. Manche Straßenzüge bestehen nur noch aus verrottenden, oft ausgebrannten Holzhäusern, Sperrmüll, Autoreifen und verwilderten Gärten, wo Büsche im kniehohen Gras und Unkraut wachsen. Heute gibt es dort fast keine Infrastruktur mehr. Schulen, Bibliotheken, Museen, Sport- und Konzerthallen sind geschlossen. Supermärkte und Lebensmittelgeschäfte gibt es nur noch in den wenigen wohlhabenden Vierteln. Schon 2006 schloss die letzte, große Supermarktfiliale. Nur in Tankstellen oder Eck-Kiosken gibt es Dauerwaren in Dosen. Frisches Gemüse, Obst, gesundes Essen – Fehlanzeige.»
Als gesellschaftskritisches Blatt könnte der Augustin von vorne bis hinten mit solchen Katastrophenszenarien zugestopft sein (unser Beispiel stammt vom Blog www.krisenvorsorge.com). Gelegentlich ist von außen zu hören, dass das bereits seit längerem der Fall sei. Das ist aber nicht als Kompliment gemeint, sondern als Vorbehalt: Die Tendenz zum Jammern mache die Zeitung beim besten Willen unlesbar.
Die Welt ist voll von Arbeiter_innen-, Migrant_innen-, Flüchtlings-, Obdachlosen-, Bettler_innen und Kinderelend, aber sie ist auch voll von selbstorganisierten Befreiungsversuchen aus diesem Elend und voll von Anregungen, die kapitalistische Krise als Quelle alternativer Lebens- und Arbeitsmodelle zu entdecken. Um beim Exempel Detroit zu bleiben: Gerade dort, wo der Verfall der Ökonomie und des öffentlichen Lebens am schlimmsten ist, regt sich neues Leben. Die verlassenen Grundstücke, die oft Banken als Eigentümer haben, die die Liegenschaften aufgaben, werden von kleinen Netzwerken besetzt. Über 120.000 Freiwillige haben in Detroit 4000 Grundstücke aufgeräumt und 1500 Häuser renoviert und saniert. Zerfallene Fabrikhallen werden zu Gewächshäusern umfunktioniert. Die Gemeinschaftsgärten sind die Basis der neuen Kommunen. In von Kirchen zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten werden privat organisierte Lehrkurse über Kompostierung und Bodenverbesserung angeboten. Universitäteprofesor_innen halten unentgeltlich Vorträge. Kochkurse mit Gartenunkräutern und Kräuterkunde werden ebenso veranstaltet wie Seminare für Obstbaumschnitt, Imkerei und Viehhaltung. Gemeinsam mit der Universität will man das wirtschaftliche Potenzial der ungenutzten Flächen untersuchen, um es optimal zu nutzen. Die von den «Urban Gardeners» (Stadtgärtnern) erzeugten, frischen und gesunden Lebensmittel werden auf den selbstorganisierten Märkten verkauft oder gegen andere Waren und Güter eingetauscht.
Als Vorwegnahme einer erstrebten neuen Urbanität sollte diese Idylle mit Paradeiserstauden und Ziegenweiden freilich nicht überdefiniert werden. Die Hunderttausenden, die Detroit in den letzten 30 Jahren verließen, hätten in den Wandel einbezogen werden können – als Fabrikant_innen von Segelfliegern, Essstäbchen, Kinderwägen, Pressluftbohrern, Staubsaugern und stromführenden Steckdosen oder als Grätzlmediator_innen, U-Bahn-Schaffner_innen und Ernährungsberater_innen. Auch die Perversen, die notorischen Faulpelze, die Dieb_innen, Angeber_innen und Verrückten hätten dableiben sollen: Ohne sie wird das obst- und gemüsezüchtende Detroit keine Weltstadt mehr werden. Und der Augustin-Journalismus hätte wieder einen Grund zu jammern …