Augustin 547
Es ist leider nicht normal
Liebe Augustin-Leser_innen, die folgenden Zeilen sind am neunten Tag des russischen Einmarsches in die Ukraine geschrieben worden. Vielleicht haben sie jetzt nur noch wenig Relevanz, weil sich der Krieg in nicht vorhersehbare Richtungen entwickelt hat. Viele westliche Expert_innen russischer Politik zeigten sich überrascht, dass Putin so weit gehen würde, viele direkt Betroffene meinen, es sei völlig klar gewesen, und werfen «dem Westen» vor, «zu lange zugeschaut zu haben».
Jedenfalls bevor noch der Angriffskrieg gestartet worden ist, hat Kollegin Ruth Weismann damit begonnen, in Wien lebende Ukrainer_innen über die Situation in ihrem Herkunftsland zu befragen (S. 10). Unter den geänderten Voraussetzungen mussten Gespräche aktualisiert werden. Eine Interviewpartnerin erzählt, dass sie nach nur wenigen Tagen damit angefangen hatte, über den Krieg zu reden, «als ob das alles normal wäre». Ihre Erklärung für ihr Verhalten: Selbstschutzmaßnahme.
Nicht selbst auferlegte Maßnahmen haben mit der Pandemie ein neues Level erreicht, doch schon vorher haben sie an manchen Arbeitsstätten aufgrund digitaler Möglichkeiten bedenkenswerte Dimensionen angenommen. Zwischen objektiver Arbeitszeit- und Leistungserfassung und Überwachung am Arbeitsplatz ist oft nur ein schmaler Grat, wie Katharina Brunner für die aktuelle Coverstory feststellen musste (S. 6).
Neben der Ukraine ist Berlin-Mitte ein weiterer internationaler Schauplatz in diesem Heft, genauer die Habersaathstraße, wo ein Plattenbau besetzt worden ist (S. 16). Diese Hausbesetzung ist insofern beachtenswert, weil sich Leerstandsgegner_innen mit Wohnungslosen gegen Immobilien-Spekulation zusammengetan haben. Türen müssen geöffnet werden, für Prekarisierte und für Flüchtende.