Totale Kontrolle?tun & lassen

Digitale Überwachung im Job – in vielen Unternehmen längst Realität. Einerseits hilfreich, um Vorgänge zu verbessern. Arbeitgeber_innen können so aber auch die Leistung ihrer Mitarbeiter_innen messen. Wo die arbeitsrechtlichen Grenzen der Kontrolle liegen, ist oft schwer zu erkennen.

Text: Katharina Brunner
Illustration: Asuka Grün

Wenn Brigitte (Name geändert) an ihren Arbeitsalltag von vor 30 Jahren denkt, wünscht sie sich manchmal zurück. Damals war ihre Hauptaufgabe, dass sie als Hebamme für die Frauen im Kreißsaal da ist. Im Zentrum: sie und ihre Fähigkeiten, die die werdende Mutter unterstützen. Im Geburtenprotokoll hat sie schon damals detailreich aufgeschrieben, wann die Frau auf welcher Körperseite lag und welchen Handgriff sie und ihre Kolleginnen wann gemacht haben. Heute fühlen sich das Protokollieren und ihre gesamte Arbeit anders an. Sie oder eine ihrer Kolleginnen protokollieren digital-genau, was sie tun. Danach weisen sie ihre Tätigkeiten aus dem Protokoll den Leistungspaketen im System des Krankenhauses zu, setzen bei den einzelnen Paketen ihre Haken. Die braucht das Krankenhaus, um mit der Krankenkasse abrechnen zu können – damit nimmt die Verwaltungsebene mehr Raum in Brigittes Arbeit ein.
Wer sonst noch sieht, was sie einträgt ins System, das weiß Brigitte nicht: «Irgendwelche Leute in der EDV-Abteilung.» Das macht ihr zu schaffen. Was, wenn jemand findet, sie arbeite nicht schnell genug? Was, wenn die Person den Eindruck hat, sie mache zu viele Pausen? Einmal im Monat werden Daten, wie und wann Brigitte sich auf welcher Station eingeloggt hat oder in welche Patient_innenakten sie Einsicht genommen hat, stichprobenartig überprüft, so ein schriftliches Schreiben ihres Arbeitgebers. Sollte es hier Auffälligkeiten geben, wäre das auch ein Kündigungsgrund, wurde ihr mitgeteilt. Das Gefühl, dass durch das Einloggen im System immer jemand weiß, wo sie wann ist, beunruhigt sie und gibt ihr das Gefühl, man vertraue ihr weniger als früher, erzählt Brigitte.

Sorgfalt oder gläserne Belegschaft?

Während Brigitte mit ihren 30 Jahren Berufserfahrung noch die andere Welt kennt, sieht Alena als junge Medizinerin in den digitalen Aufzeichnungen vor allem eine Absicherung für sich selbst: «Ich halte alles so präzise und genau fest, wie möglich. Sollte es Komplikationen geben, will ich, dass meine Handlungen exakt festgehalten wurden und man sieht, dass ich mit Sorgfalt gearbeitet habe», so die 26-jährige Ärztin in Ausbildung. Auch findet sie, dass es eine Qualitätssicherung sei. Durch genaue Dokumentation könne man schließlich mit Analysen herausfinden, welche Behandlung besser funktioniert hat als andere.
Viele Unternehmen berufen sich bei den Argumenten für das Aufzeichnen von Arbeitszeiten und Dokumentation auf die Qualitätssicherung. Das kann so weit gehen, dass in Callcentern im Namen von Qualitätssicherung und Kund_innenzufriedenheit Gespräche aufgezeichnet, automatisiert bewertet und nach Stichwörtern durchsucht werden. Auch Funktionen zur Analyse der Stimmung in Gesprächen auf Basis von Tonfall, Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke und erwähnten Wörtern stünden mit manchen Softwares zur Verfügung, so eine Studie mit dem Titel Überwachung am Arbeitsplatz, die Cracked Labs, das Institut für kritische Digitalkultur, im September 2021 veröffentlicht hat, und die vom Digitalisierungsfonds Arbeit 4.0 der Arbeiterkammer Wien mitfinanziert wurde.
Wolfie Christl ist der Autor. Er forscht und publiziert seit vielen Jahren zu den gesellschaftlichen Auswirkungen neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Seine Studien werden international zitiert – unter anderem in der US-amerikanischen The New York Times, dem New Yorker, der französischen Zeitung Le Monde oder im britischen The Guardian.
Die Studie ist das Hauptergebnis des Projekts Gläserne Belegschaft, das in Kooperation mit den zwei österreichischen Gewerkschaften GPA und PRO-GE entstanden ist. Sie nennt viele andere Bereiche, in denen Ähnliches passiert: Gastronomie und Handel, Reinigungsfirmen, bei Plattform-Zustelldiensten für Essenslieferungen oder Unternehmen im Gesundheitsbereich etwa. Von drei befragten Organisationen aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich komme keine ihren Informationspflichten nach. Die Betriebsrät_innen wüssten nicht genau, welche datenverarbeitenden Systeme im Einsatz sind, fasst Christl in seiner Studie zusammen. Auch Alena, die junge Ärztin in Ausbildung, bemerkt neben den positiven Seiten der Qualitätssicherung und Dokumentation, dass sie nicht darüber Bescheid weiß, was genau mit all den Aufzeichnungen passiert. Sie wüsste auch nicht, an wen sie sich für mehr Informationen hier wenden sollte, erzählt sie.

WC-Pausen und Prämien.

Die Arbeitsfelder, die die Studie nennt, sind meist welche mit ohnehin schon prekären Arbeitsverhältnissen – Callcenter und Kund_innenservice sind solche Bereiche. Ein österreichisches Beispiel aus dem Kund_innenservice ist das Unternehmen smart Energy Services GmbH, ein Joint Venture der Verbund Energy4Customers GmbH und der deutschen Getec Energie GmbH. Es ist für den Kund_innenservice bei Verbund zuständig. Seit 1988 notiert Verbund an der Börse Wien, 51 % des Aktienkapitals besitzt die Republik Österreich.
Geschäftsführer Martin Granzer von smart Energy services gibt über die Regelung der Zeiterfassung im Unternehmen Auskunft: «Pausen bis zu einem mit dem Betriebsrat vereinbarten Kontingent gelten als bezahlte Arbeitspausen – darüber hinausgehende Pausen gelten nicht als Arbeitszeit.» WC-Pausen, Trinken holen oder Ähnliches würden nicht extra festgehalten werden, «Kurzpausen» wie Rauch- und Kaffeepausen, private Telefonate schon. Übersteigen sie das abgemachte Kontingent, gelten sie als nicht bezahlte Zusatzpausen, so Granzer.
Telefongespräche werden aufgezeichnet, wenn der_die Endkund_in der Aufzeichnung des Gesprächs zustimmt. Daraus werden Stichproben analysiert. «Eine Reporting-Software wird verwendet, um die Leistungen entsprechend der gültigen Betriebsvereinbarung auswerten zu können. Dies ist auch die Basis für eine zusätzliche Jahresprämie, welche die Mitarbeiter_innen beim Erreichen der vorgegebenen Kennzahlen erhalten können», erklärt Granzer.

Gamification.

In Christls Studie finden sich weitaus drastischere Beispiele der Zeit- und Leistungserfassung und Belohnungssysteme in Callcentern. Das US-Unternehmen Genesys versorgt mit seiner Software Unternehmen wie PayPal, BMW, Bosch, Philips, Vodafone, Swisscom, A1 Telekom Austria und Conrad Electronic. Es weist Anrufe automatisch bestimmten Mitarbeiter_innen zu, Daten zu Arbeitstätigkeiten zeichnet es sekundengenau auf, diese können in Echtzeit und auch über längere Zeiträume hinweg ausgewertet werden. Merkmale, die das System aufzeichnet, sind zum Beispiel die gesamte Zeit, in der die Person in der Schicht im System eingeloggt war, die Zeit, in der die Person das System auf «Pause» oder «Mittagspause» gestellt hat, die Zeit, in der die Person nicht telefoniert hat und nicht bereit war, Anrufe anzunehmen, oder auch die durchschnittliche Dauer der Gespräche sowie die Zeit, in der die Person ein Telefonat auf «Halten» gestellt hat.
Mit diesen Auswertungen werde eine umfassende Leistungskontrolle möglich, die jeden Arbeitsschritt bewerte und die Beschäftigten miteinander vergleiche, hält die Studie fest. Gleichzeitig gehe das System über die reine Überwachung von Arbeitstätigkeiten hinaus: Die Software bietet Möglichkeiten, mit den Aufzeichnungen der Arbeitsleistung positive Verhaltensweisen zu erkennen und diese zu belohnen. Dieses Belohnungssystem nennt die Studie als Teil eines Phänomens in der Arbeitswelt: Gamification. Mit dem Anreiz- und Belohnungssystem soll das «natürliche Bedürfnis nach Konkurrenz» genutzt werden – Genesys stellt dafür Punktesysteme und Ranglisten zur Verfügung. Die Studie beschreibt auch eine App, die sogar Emotionen in Kund_innengesprächen messen kann und so die Reaktionen oder das Einfühlungsvermögen der Mitarbeiter_innen bewerten kann: Observe.AI kann als App in Genesys integriert werden und soll Stimmung und Emotionen in Gesprächsteilen mittels Analyse von Tonfall, Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke einschätzen können. Damit könne etwa analysiert und optimiert werden, wie «empathische» Formulierungen der Person im Callcenter gegenüber «unglücklichen und frustrierten» Kund_innen wirken.

Arbeitsrecht.

Was sagt das Arbeitsrecht dazu? Laut Marlene Frank, Beraterin bei der Arbeiterkammer Wien, orientiert man sich in der Beurteilung der Kontrollmaßnahmen daran, ob sie die Menschenwürde verletzen oder nur berühren. Ganz klar verletzend und damit unzulässig sind zum Beispiel Video- und Audioaufnahmen in Umkleiden oder Toiletten oder in der Regel auch Leibesvisitationen, also im privaten Bereich. Maßnahmen, die die Menschenwürde berühren, sind zum Beispiel Videoaufzeichnungen an Arbeitsplätzen wie etwa dem Kassabereich, GPS-Aufzeichnungen im Arbeitsbereich oder auch technische Aufzeichnungen von Maschinen, mit Rückschluss auf die Arbeitsleistung der Arbeitnehmer_innen.
Solche Maßnahmen müssen zwingend durch Betriebsvereinbarungen festgelegt sein. Gibt es keinen Betriebsrat im Unternehmen, müssen sie in Einzelvereinbarungen mit dem Personal geregelt sein, erklärt Frank. Stets aber gilt: «Berühren die Maßnahmen die Menschenwürde, muss immer geprüft werden, ob es eine die Persönlichkeitsrechte weniger beeinträchtigende und damit gelindere Alternative gibt», sagt Frank. Zu prüfen ist hier, welches Kontrollziel des_der Arbeitgeber_in erreicht werden soll und ob das eingesetzte Kontrollmittel zum angestrebten Zweck in Relation steht. Die Studie von Cracked Labs führt aber eine empirische Befragung in Österreich an, die zeigt, dass komplexere Systeme oft ohne Betriebsvereinbarung eingesetzt werden.
Wären aber die Messung der Stimme und der Emotionalität im Kund_innengespräch des Callcenters nicht auch personenbezogene Daten und müsste daher klar festgelegt sein, wie sie verwendet werden können? Genannte Maßnahmen würden jedenfalls die Menschenwürde berühren und könnten nur durch Betriebs- oder Einzelvereinbarungen eingeführt werden. In dieser Frage greift somit auch wieder die individuelle Abwägung, ob es für den Leistungsnachweis oder die Qualitätssicherung nicht gelindere Maßnahmen gäbe, so Frank.
Der deutsche Datenschutz- und Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler weist in seinem Buch Gläserne Belegschaften. Das Handbuch zum Beschäftigtendatenschutz schon 2017 darauf hin, dass «eine totale Erfassung des Verhaltens zwar rechtlich ausgeschlossen sei, eine Erhebung von Kontrolldaten über die Quantität und Qualität der von einzelnen Arbeitnehmer_innen erbrachten Leistung könne aber, um die Funktionsfähigkeit des Unternehmens zu messen, durchaus legitim sein». Es scheint, als würden die arbeitsrechtlichen Gesetze den digitalen Systemen nicht ganz hinterherkommen, und die Grenzen zwischen legitimen Kontrollmöglichkeiten und solchen, die unverhältnismäßig die Leistung von Arbeitnehmer_innen messen und diese unter Druck setzen können, verschwimmen.

Mitsprache.

Im Mai 2021 wurde eine Studie über die Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten und Grenzen betrieblicher Mitbestimmung in einer digitalisierten Arbeitswelt von der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) veröffentlicht – ebenso finanziert vom Digitalisierungsfonds Arbeit 4.0 der AK Wien. Dabei zeigte sich, dass zwar altbekannte Bereiche wie Videoüberwachung, Zeiterfassung, Zutrittskontrolle oder die Nutzung von Telefon, Internet und E-Mail bei immerhin 50-70 % der 700 Befragten mit einer Betriebsvereinbarung geregelt sind. Der Prozentanteil nimmt aber rapide ab, je komplexer die eingesetzte Technologie wird.
Im globalen Vergleich haben Beschäftigte und Betriebsrat in Österreich und Deutschland relativ gute Mittel, beim Einsatz datenverarbeitender Systeme im Betrieb mitzureden und extreme Formen von Überwachung und Kontrolle zu verhindern, bewertet die Studie von Cracked Lab. Beschwerden darüber, dass sich Arbeitnehmer_innen durch das Vermessen ihrer Arbeit digital überwacht fühlen, bekommt die AK nur selten. «Es ist eher ein Randthema», so Frank. Die Bedenken der Hebamme Brigitte bleiben aber. Während sie nicht informiert wird, wohin all ihre Dokumentationen kommen, wer sie liest und vielleicht auch bewertet, weiß das Krankenhaus, in dem sie arbeitet, wesentlich mehr.