Das Räudige bleibt draußenArtistin

Mural Harbor verwandelt Linzer Hafenviertel in eine Graffiti-Galerie

Internationale Stars der Graffiti-Szene bringt Leonhard Gruber, Kunstvermittler, ins Linzer Hafenviertel. Harald Kronsteiner, Hafendirektor, freut sich über die gelungene Integration «unkontrollierbarer» Künstler_innen in einen städtischen Entwicklungsprozess. Handelt es sich um eine Vereinnahmung?

Text und Fotos: Robert Sommer

Linz ist lässig. Ich erspar dem Bürgermeister der Stadt, recherchieren zu lassen, ob dieser Slogan durch ein Copyright geschützt ist. Ist er nicht. Er kann den Spruch haben. Falscher als das offizielle Motto «Linz verändert» ist er sicherlich nicht. Viele, die die Dialektik der Urbanität ergründen wollen, sind bereit, die stadtspezifische Lässigkeit, die kollektive Nonchalance, das Niveau der Toleranz der Mehrheit gegen das Unangepasste mit der öffentlichen Präsenz der Graffiti-Szene in Verbindung zu bringen.

Je mehr Wandbilder in einer Stadt auftauchen, die a) nicht in Auftrag gegeben worden waren und b) von gesellschaftskritischen Inhalten geprägt sind, desto freier ist die Atmosphäre, die diese Stadt zum Atmen bietet, so lautet die Rechnung, die auch den smarten Teilen der Elite geläufig ist.

Der Umkehrschluss: Wo 14-jährige Sprayerinnen und Sprayer Repressalien erfahren und zu Kriminellen erklärt werden, findet man die Freiheitsrechte im Kleingedruckten. Wer in Linz gut im Sprayen war, ist längst nach Wien abgehauen, in eine Stadt, die relativ gut im Tolerieren von Graffiti ist.

Und doch pilgern seit 2016 immer mehr an Street Art interessierte Menschen in die oberösterreichische Landeshauptstadt. In jene sonderbare Parallelstadt, die ebenfalls Linz heißt (und ist) und von Stahl und Hafen geprägt ist. Gegen die hier in den letzten drei Jahren geschaffenen Walls – Wände, die Sprayer_innen anheimgestellt werden – nehmen sich die Wiener Bilderflächen, siehe die Freiluftgalerie entlang beider Seiten des Donaukanals, wie Bonsai-Wände aus. Die grauen Betonflächen der riesigen Lagerhallen, die auf dem Gelände der verlandeten ehemaligen Donauhafenbecken hochgezogen werden, sind für die ins Linzer Hafenviertel eingeladenen Künstler_innen in ihrer gesamten Höhe nutzbar.

Mitmachen oder nicht?

Die Initiative Mural Harbor stellt ihnen die dafür nötigen Hebebühnen zur Verfügung. Dafür zahlt sie Miete an die Linzer Hafengesellschaft. Das großformatige Arbeiten zieht auch internationale Sprayer_innen an, die sonst gegen die Tendenz des Aufweichens des alten Anarcho-Prinzips aus den Anfängen dieser Jugendkultur Stellung beziehen: Fertige nie ein Wandbild an, das jemand ober dir in Auftrag gegeben hat!

Das kontrakommerzielle «Reinheitsgebot» der Graffiti-Szene, die gerne als Avantgarde aller Unkorrumpierbaren in Erscheinung tritt, trifft hier auf das menschliche Bedürfnis, zu tun, was anderen Aufmerksamkeit entlockt. Leonhard Gruber, der Erfinder des Mural Harbor, weiß am besten, in welche ambivalente Lage er Sprayer_innen bringt, denen er leere Industriegebäudewände vermittelt.

Die Hafengesellschaft gebe, erklärt der heute 42-Jährige, die Flächen zwar kostenlos her, aber sie sei keine Auftraggeberin im geläufigen Sinn dieses Wortes. «Es herrscht Freiheit der Kunst, da fährt die Eisenbahn drüber», sagt Gruber. «Weder ich noch der Direktor der Hafengesellschaft noch die Linz AG, der der Hafen untergeordnet ist (Anmerkung des Autors: und die der einzige Subventionsgeber des Vereins Mural Harbor ist), müssen informiert werden, welches Bild für die nächste freie Wand vorgesehen ist. Niemand verlangt einen Sketch (Anmerkung des Autors: Skizze in Szenesprache) vom Geplanten. Gleich beim zweiten Bild am Hafen wurde es spannend. ROA, ein Künstler aus Belgien, fragte nur: ‹Can I go bloody?› Niemand mischte sich in sein Projekt ein, das einen Rehbock zeigt, der in der Mitte durchgeschnitten ist. Eine kleine Provokation, ohne wirklich viel Blut. Einige hatten dann etwas Schiss, als das Piece fertig war: Was wird der Oberboss der Linz AG sagen? Dem gefiel es aber – als Jäger.»

Arbeiten im Untergrund?

Aus der Sicht der radikalen Graffiti-Szene sei diese Einbindung der Spraykunst in ein offizielles Stadtentwicklungsprojekt ein Verrat, sagt Leonhard Gruber. «Die hassen mich, ich weiß es. Für die sind nur diejenigen berechtigt, sich Sprayer zu nennen, die in der Nacht illegal ganze Eisenbahnzüge dekorieren. Wenn sie wüssten, wie sehr ich dieses Train Bombing liebe! Aber es ist eine einseitige Liebe. Apropos Dekoration. Ich bin mir bewusst, dass wir von Mural Harbor aufpassen müssen, uns nicht einem Verschönerungsverein anzunähern. Wir brauchen keine braven Bilder hier. Aber die Trump-Regierung, der Rechtsruck in Österreich, die explodierende Armut lässt die meisten Sprayerinnen und Sprayer eh nicht unbeeindruckt. 100 Graffiti von Künstlern aus 30 Ländern haben wir inzwischen hier, und ich beobachte seit geraumer Zeit, dass die Szene immer gesellschaftskritischer wird.» Dieser Kategorie der Graffiti-Bewegung gehören etwa die Aktivist_innen der brasilianischen Pixadores-Bewegung an, die Linz am Hafen besuchten.

Für 2018 ist einiges geplant im Linzer Hafenviertel. Angekündigt wird wenig. Die Größen des globalisierten Graffiti-Netzwerks wollen keine Zuschauer_innen, wenn sie auf den Hebebühnen am Werken sind. Das hat mit ihrer prinzipiellen Anonymität zu tun. Alle kommen und verlassen Linz mit ihren Pseudonymen. Die auf den Schutz des Privateigentums von Immobilien fokussierten Gesetze verlangen ein Arbeiten «im Untergrund». Kunst wird dann leicht zum Verbrechen erklärt.

Nicht im Hafenviertel: Dort passen die gesprayten Kunstwerke ins Entwicklungskonzept des Hafendirektors Harald Kronsteiner. Sein Hafen boomt schon jetzt, er soll morgen superboomen. Nach den Grundstücken und Hallen des Hafenviertels herrscht rege Nachfrage, das Gebiet gilt als «spannendstes» aller österreichischen Stadtentwicklungsareale. Auch die Seestadt in Wien 22 und das Viertel hinter dem Wiener Hauptbahnhof erheben diesen Anspruch. Kunst wird dort aber kaum als Faktor der Stadtentwicklung anerkannt, schon gar nicht Street Art, die von vielen Akteur_innen der Stadtentwicklung eher als Vandalismus wahrgenommen wird.

Um Gerechtigkeit walten zu lassen: Auch der Linz AG fehlte jene Gnade utopischen Denkens, die den Beitrag der Kunst für das Image des neuen Hafens vorstellbar hätte machen können. Die Fantasie kam nicht von der «Wirtschaft», sondern aus der «Partyszene» der 90er-Jahre. Leonhard Gruber organisierte die Feten der Skater-Generation. Das Schicksal, genauer: die sprichwörtliche Liebe verschlug ihn aus dem Zillertal ins Linzer Hafenviertel, wo er von seinem Büro aus die grauen Lagerhallenwände sehen konnte. Als sie ihm endgültig unerträglich wurden, musste er den Hafendirektor kennen lernen.

Dekorativ und räudig?

Die Partnerschaft zwischen der Kunst und der Wirtschaft scheint unterdessen modellhaft zu sein. Dabei ist die Interessenslage divergent. Der Hafendirektor braucht für das moderne Image seines Hafens die Orientierung auf die spektakulären, vermarktbaren, weithin ausstrahlenden Aspekte der Graffiti-Kunst. Das Schmutzig-Schmuddelige an Graffiti, die Schmierereien auf der «Möblasch» schäbig gewordener städtischer Räume, die kleinen Vandalismen, die frechen Anarchosprüche auf den Wänden staatserhaltender Ämter sind aus dieser Sicht entbehrlich. Für Gruber aber gehören diese Pole zusammen: das Ästhetisch-Dekorative einerseits, das Räudige andrerseits. «Ich weiß, was die Manager wünschen. Mit jedem Stück bunter Ästhetik, das ich ihnen vermittle, trenne ich selbst diesen Zusammenhang.» In der Kooperation mit der immer dominanten Wirtschaft löse sich die Einheit von Schönheit und Provokation auf, und damit das Wesen der Graffiti-Kultur.

Andrerseits verschafft er der Graffiti-Kultur ungeahntes Ansehen: Die Arbeiter_innen des Hafens betrachten die jungen Sprayer_innen nicht mehr als Tagesdiebe. Sie sehen, dass deren Arbeit – immer mit Chemie, oft zehn Stunden unter praller Sonne – kein Kinderspiel ist. Ab und zu werden die Künstler_innen von den Beschäftigten gefragt, wann denn die erste überdimensionale «Nokkade» ins Hafenviertel einziehe. Aber das fällt für Leonhard Gruber eher unter proletarische Selbstironie.

Was ab März 2018 sicher wieder passiert, sind die samstägigen Mural-Boat-Führungen, die immer um 15 Uhr beginnen. Vom Wasser aus ergeben sich atemberaubende Perspektiven auf die Großbilder. Sehr beliebt ist der Crash-Kurs nach dem Ende der Hafenrundfahrt. Die Teilnehmer_innen, durchschnittlich ein Drittel davon Kinder, werden unter fachkundlicher Anleitung in die Kunst des Sprayens eingeführt. Wer Kilometer nicht scheut, kann die Freiluftgalerie auch zu Fuß bewältigen. Dass die Schilder «Hafengelände. Eintritt verboten» nicht immer beachtet werden müssen, ist für Gruber eine kleine Verschiebung der gesellschaftlichen Gewichte. Er plädiert freilich dafür, diese Besichtigungen in Eigenregie an den arbeitsfreien Wochenenden zu unternehmen. Wegweiser zur Kunst oder eine Orientierungskarte gibt es noch nicht. Für 2018 hat sich der Verein Mural Harbor eine Erweiterung des künstlerischen Spektrums vorgenommen, die den Pfad noch attraktiver machen wird: Neben der Graffiti-Schiene sollen Skulpturen und Installationen aus dem Gelände wachsen. Dass damit das alte Dilemma «Behübschung versus Provokation; Dekoration versus politisches Statement» eskalieren kann, ist bei Projekten im Schnittfeld von Kunst und Wirtschaft schon angelegt …

 

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www.muralharbor.at