Zauber und Schrecken der KindheitArtistin

Gezeichnete Biografien

Zwei außergewöhnliche autobiografische Comics sind vergangenes Jahr im Berliner avant-verlag erschienen. Über eine turbulente Brüder-Beziehung, nudelartige Kraken, Belcanto und streitende Eltern: Martin ­Reiterer hat gelesen und geschaut.

Sie gehören zu den unvergesslichen Augenblicken einer Kindheit, wenn Eltern die volle Wucht eines tragischen Zwischenfalls mit einem geheimnisvollen Zauber abfangen: Strahlend läuft das Töchterchen mit Schulranzen voran, stürzt plötzlich Hals über Kopf, Geweine, rappelt sich wieder auf, sieht ihre kaputten Strümpfe – und bricht erst recht in jämmerliches Heulen aus. Die Mutter zieht ihr die Strümpfe aus, knäuelt sie zusammen, spricht einen Zauberspruch darüber, zieht sie der kleinen Tochter wieder an, und siehe: Die Löcher sind nicht mehr da! Verschwunden!

Doch o weh, wenn der Zaubertrick den Kreis des magischen Feldes verlässt: Unter dramatischem Gegacker legt der Vater das tägliche Ei, nun liegt es warm in der Hand des Sohnes. Doch als dieser die ungeheuerliche Geschichte vom Eier legenden Papa in der Schule erzählt, wird die Begeisterung des Erzählers mit einem Schlag durch das Gespött der Mitschüler_innen schockgefroren.

Vorlieben und Abneigung. «so tun als ob heißt lügen» von Dominique Goblet (Belgierin, Jahrgang 1967) und «Wunderland» von Tom Tirabosco (Schweizer, Jahrgang 1966) sind zwei sehr unterschiedliche autobiografische Comics, die jedoch eine Reihe von bemerkenswerten Berührungspunkten aufweisen. So steht im Mittelpunkt von Goblets Geschichte der alkoholkranke Vater, während es bei Tirabosco der Bruder ist, der mit körperlichen Behinderungen an beiden Armen und einem Bein zur Welt kommt und das familiäre Zusammenleben neu herausfordert. Die aufbrausende Unberechenbarkeit oder strafende Gewalt eines Elternteils, die Trennung beziehungsweise der dauerhafte Streit der Eltern spielt in beiden Lebensgeschichten eine Rolle. Schließlich erzählen beide sehr nah am Erlebten, schonungslos sich selbst gegenüber.

Ästhetisch und erzähltechnisch greifen die Comic-Künstler_innen jedoch zu sehr unterschiedlichen Mitteln und Verfahren. Tirabosco, der (zusammen mit Christian Perrissin) zuletzt mit «Kongo. Joseph Conrads Reise ins Herz der Finsternis» (2013) hervorgetreten ist, thematisiert zu Beginn seines Comics die Zeit: Der kleine Junge Tom verliert sich zeichnend in seinen Fantasien, «die Welt um ihn herum hört auf zu existieren». Vierzig Jahre später zeichnet Tom «noch immer, aber die Welt um ihn herum hat sich verändert». Was hat diesen Jungen geprägt? Warum hat er heute diese Vorlieben und jene Abneigungen? Das sind Fragen, die den Zeichner antreiben und die er der Story voranstellt. Dann setzt der Autor sozusagen von vorne an, mit der Begegnung seiner schüchternen Schweizer Mutter mit seinem italienischen Vater, Belcanto-Liebhaber und Hobbymaler mit ausgeprägten ästhetischen Werturteilen. Der Erzählduktus in «Wunderland» ist vorwiegend chronologisch und konventionell. Die Turbulenzen bereitet das Leben, die Ankunft des körperlich behinderten Bruders Michel, die mitleidsvolle Umgebung, der Umzug von Rom in die Schweiz, die Zornanfälle des Vaters, die Angst der Kinder. Doch Michel, der eine Fußprothese bekommt und die Armprothesen verweigert, ist kein Kind von Traurigkeit. Im Gegenteil, er ist ausgelassener, lebensfreudiger und wilder als Tom, der mit Puppen spielt und Comics liest, und anders als Riccardo, der eine Sammelleidenschaft für Insekten und kleine Tiere entwickelt. Die Darstellung von Michels ­Widerspenstigkeit gehört zweifellos zum Eindrücklichsten in Tiraboscos Buch. Eine Widerspenstigkeit, die für Michel lebensnotwendig, für seinen Bruder Tom aber ebenso zur Herausforderung wird. Für diesen wird die Welt der Comics, mit Vorliebe von Walt Disney und Hergé, zum Refugium seiner Kindheit, das der Zeichner in traumhaften Bildern weitermalt. Auf den, seinem Monotypieverfahren geschuldeten, porösen Flächen entsteht eine Wunderwelt aus fliegenden Fischen und nudelartigen Kraken.

Beziehungen. Nicht ohne eine gewisse Wehmut thematisiert Tirabosco die Prägung seines Zeichenstils durch seine Kindheitserfahrungen und drückt sogar Bedauern an seiner starken Beeinflussung durch Walt Disney aus: «Bambi. Noch heute frage ich mich, in welchem Ausmaß dieser große elegische und morbide Film meinen aktuellen Arbeiten geschadet hat.» Doch während sich Tirabosco die Grenzen seiner Zeichenkunst nicht zu überschreiten traut, lässt er am Ende seinen Bruder Michel, inzwischen ein erfolgreicher Musiker, selbst zu Wort kommen, um dessen Wahrnehmung seiner eigenen Erinnerung gegenüberzustellen. Dies ist nur eine der Strategien des Autors, um den Figuren Ambivalenz und Vielschichtigkeit zu verleihen.

Im Gegensatz zu Tiraboscos linearem Erzählverlauf setzt sich Goblets Comic nichtchronologisch aus fragmentarischen Episoden zusammen. Die Spuren der Zeit dagegen sind doppelt, denn «so tun als ob heißt lügen», zuerst 2007 auf Französisch erschienen, ist in einem Zeitraum von zwölf Jahren entstanden. Dass die Zeichnerin verschiedenartige Techniken verwendet – mit Bleistift, mit Öl, mit und ohne Kolorierung bis hin zu ganzseitigen monochromen Farbflächen – ist typisch für ihre Arbeitsweise. In diesem Band, ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Comic, tragen sie zu einer Betonung der zeitlichen Schichten und Verschiebungen bei.

Grundsätzlich verflicht die Autorin zwei narrative Stränge miteinander: ihre Kindheitsgeschichte und ihre spätere Beziehung zu einem Mann. Einerseits elliptisch nebeneinander stehend, sind die einzelnen Kapitel überraschend miteinander verlinkt. So wechselt am Anfang eine Episode zwischen der kleinen Dominique und ihrer Mutter mit einer zwischen Dominique und ihrer kleinen Tochter Nikita. Dem auf die Trennung der Eltern bezogenen Satz ihres Vaters, «Ihr habt mich einfach im Stich gelassen», widerspricht die Tochter: «Nicht doch, Papa … Du warst es, der uns im Stich gelassen hat», und rund hundert Seiten später kehrt er wieder.

Einen Mittelpunkt des autobiografischen Erzählpuzzles stellt, angeregt durch die Fragen der Enkelin, das Zusammentreffen der Erzählerin mit ihrem Vater dar, nachdem diese mehrere Jahre keinen Kontakt miteinander hatten. Das daraus entstehende Gespräch wird zu einem einprägsamen Porträt des ehemaligen Feuerwehrmanns und nachgeraden Alkoholikers: Neben den sprechenden Zeichnungen sind es dabei das Spektrum der Schriftbilder von zick-zackig bis schnörkelig, die der dramatischen Rede und dem Lallen des Vaters eine unverwechselbare Anschaulichkeit verleihen.

Schein. Obwohl das titelgebende Zitat, «so tun als ob heißt lügen», einer übertrieben harschen Reaktion der Lebensgefährtin des Vaters entstammt, die Goblet als geisterhaftes Wesen zeichnet, kehrt das Motiv der Täuschung und des Scheins in verschiedenen Episoden wieder. Und während das So-tun-als-ob einerseits den Ort eines Refugiums und der spielerischen Freiheit darstellt, durchziehen die Lügen andererseits als archetypische Muster die Kindheit: Sei es das Verhalten des trinkenden Vaters oder dessen Wegschauen angesichts einer ausgefallenen «Strafexpedition» der Mutter. Es erinnert an ein Ereignis in Tiraboscos «Wunderland», als Ärzte und Eltern Michel versprechen, dass seine Beinoperation keine Schmerzen nach sich ziehen wird. Es kommt anders: «Ihr habt mich angelogen!!!»

Das Motiv taucht im Zusammenhang von Dominiques Beziehung wieder auf: Den Mann, den sie liebt, verfolgt ein schattenhafter Geist, eine Frau, von der er sich nicht trennen kann. Es ist nicht das einzige geisterhafte Wesen in Goblets Comic. Schließlich unterbricht ein Ereignis die Geschichte: «8. Juli 1998 – Mein Geburtstag – Der Feuerwehrmann ist tot.» Auch der Tod des Vaters, bevor die Geschichte, bevor das Gespräch zu Ende ist, wirft seinen Schatten. Das Ende des Comics aber wird aufgefangen durch die monochromen Bildlandschaften, die den Beginn von etwas Neuem versprechen. Das Neue aber, das Irritierende wie das Erstaunliche, nistet zugleich in den einzelnen Teilen des Comics: als ästhetisches Versprechen und dessen Einlösung.

 

Dominique Goblet:

«so tun als ob heißt lügen». Aus dem Französischen von Annika Wisniewski

avant-verlag 2017

148 Seiten, 29,95 Euro

Tom Tirabosco:

«Wunderland».

Aus dem Französischen von Claudia Sandberg

avant-verlag 2017

136 Seiten, 24,95 Euro