Leute machen Kleidervorstadt

1303 gab es in Wien den ersten eingetragenen Schneider. Heute kämpft die Kleidermacherei mit dem globalen Preisdruck. Wie viel Zeit, wie viel Lohn und wie viel Erdöl stecken in unseren Hemden? Eine Reise durch ein Urwiener Gewerbe.

Text: Eva Maria Bachinger, Fotos: Nina Strasser

«Das ist die erste Adresse in Wien. Ich komme her, seitdem ich hier wohne, seit 2014», sagt ein Kunde, der sich gerade einen Anzug bei Schneider Ilyas Gül ändern lässt. Gül ist stadtbekannt wie ein bunter Hund, allerdings nicht unter seinem richtigen Namen: Alle gehen einfach zu «Schneider Michael». Mihail ist eigentlich der Name seines Bruders, der in Wien-Alsergrund eine Maßschneiderei hat. Als Ilyas nach Österreich kam, hatte er keine eigene Konzession, sondern war bei seinem Bruder angestellt. Auf dem Schild stand Schneider Michael, der Einfachheit halber hat er es dabei belassen.
Die Änderungsschneiderei ist im Erdgeschoss neben dem Herzfeldhaus untergebracht, gleich neben dem Café Ritter. Die rot gestrichene Ladenfront fällt auf, eine große, schwere Schneiderschere und ein altes Dampfbügeleisen liegen in der Auslage. Daneben betreibt Gül seit zwei Jahren gemeinsam mit Gernot Stary, ehemaliger Verkaufsleiter bei der Modekette Don Gil, ein Herrenmodengeschäft mit Mode aus Neapel, Maßkonfektion steht im Vordergrund. Und eine Überzeugung: «Kleidung hat keine Bedeutung, bis sie jemand trägt», ist auf einem Schild zu lesen.

Ein «Sneider» am Hohen Markt.

Die älteste Erwähnung eines Schneiders findet sich im Archiv der Stadt Wien, datiert vom 24. April 1303: «Friedrich der Minniganch, der Sneider, kauft eine Futtergrube am Hohen Markt». Die Wiener Schneiderinnung existiert seit 1340. Die Herausbildung dieses Handwerkes steht im Zusammenhang mit dem Aufkommen differenzierterer Formen von Kleidung im Hochmittelalter. Jahrhundertelang gab es ein blühendes Schneidergewerbe in Wien: «Bis in die 1950er-Jahre hatte jeder seinen eigenen Schneider, das ist heute natürlich nicht mehr so», erzählt Patrizia Markus, Innungsmeisterin der Mode- und Bekleidungstechnik der Wiener Wirtschaftskammer. Aktuell gibt es laut Mitgliederstatistik 2019 in Wien 306 Maßschneidereien sowie 149 Designer_innen und 240 Änderungsschneidereien. Sie halten die Tradition dieses alten Handwerks in Wien hoch. Doch pro Jahr gibt es nur noch drei bis vier Lehrlinge, die meisten lernen an den Wiener Modeschulen und werden eher Mode­designer_innen als Schneider_innen für alle. Es gebe zwar zunehmend wieder mehr Betriebe, aber das seien oft Einzelunternehmer_innen, die sich Nischen gesucht haben, so Markus.
Hoher Anspruch, hoher Preis. Der Niedergang des Schneiderhandwerks ist schnell erklärt: Der Großteil unserer Kleidung wird schon lange nicht mehr hierzulande produziert, sondern in Osteuropa und Fernost. In den letzten Jahrzehnten sind dadurch tausende lokale Arbeitsplätze verschwunden. Durch die Corona-Pandemie ist noch klarer geworden, was ohnehin bekannt war: die Abhängigkeit von globalisierter Produktion. Weil Grenzen geschlossen wurden und Flugzeuge am Boden blieben, kam es in allen Branchen zu Lieferverzögerungen und -ausfällen. Nicht nur Stangenware wird auswärts produziert, selbst Maßkleidung – oder was man dafür hält. Dabei werden die Maße, Stoff-, Schnitt- und Farbwünsche nach Asien geschickt, dort näht eine schlecht bezahlte Näherin das gewünschte Kleidungsstück, das wieder nach Europa gesendet wird, in Plastik verpackt, mit einem Foto einer lächelnden, jungen Frau, das vermitteln soll: Hier wird niemand ausgebeutet. «Die Kunden zahlen 49 Euro für ein Hemd, und ich soll es dann umändern, weil es natürlich nicht passt», ärgert sich Gül.
Auch Schneidermeister Fahim Aho, der wie einst der erste Schneider Wiens am Hohen Markt ein Atelier hat, berichtet, dass zunehmend mehr Kund_innen von ihm vermessen werden wollen, damit sie online bestellen können, was er stets ablehne. Im Vergleich zu seinen Anfangsjahren in den 90er Jahren hat er weniger Aufträge von großen Textilgeschäften und Versandhäusern. «Das ist alles weg, alles ins Ausland ausgelagert. Wenn Sie heute einen Vorhang bei einer Möbelkette um 19,90 Euro kaufen, made in China, ist klar, dass eine Firma hierzulande, wo die Kürzung eines Vorhangs mehr kostet, nur schwer überleben kann. Das ist ein grundsätzliches Problem.»
Aho hat hohe Ansprüche: Die Stoffe im Geschäft sind vor allem aus Kaschmir, Seide und Merinowolle. Er präsentiert einen grau schimmernden Herrenanzug, schwarze Fracks, ein Kleid aus bestickter Seide, elegante Damenkostüme. Das hat seinen Preis: Ein Maßanzug kostet 700 Euro aufwärts, ein Kleid ab 400 Euro, je nach Stoff und Schnitt. Aho setzt zusätzlich auf Produkte wie Ledergürtel: «Aus Österreich, Belgien, Italien, England. Wir müssen verstehen, dass wir hier leben, eine Wirtschaftsgemeinschaft bilden und dass wir in Österreich auch wieder mehr produzieren sollten. Vielleicht lernen wir das jetzt durch die Corona-Krise.» Aho stammt aus Syrien, im Alter von 19 Jahren kam er nach Österreich. Für ihn ist der Beruf des Schneiders ein wichtiger Teil seiner Identität, eine Ehrensache: «Wir sind Schneider seit mehr als 100 Jahren. Mein Großvater war Schneider, mein Vater war Schneider, mein Onkel, meine Geschwister sind alle Schneider. Ich habe schon als Kind in der Firma mitgearbeitet. Ich lebe diesen Beruf.»

Trend zum umweltverträglichen Hemd.

Das Atelier Pollsiri in der Kirchengasse von Patrizia Markus ist ein Schmuckstück: mit viel Stil und Geschmack ausgewählte alte, dunkle Möbel, ein Paravent aus Holz mit selbst bezogenen Stoffflächen, Jugendstil-Lampen. «Ich habe ein Faible für alte, schöne Dinge.» Ein Ölgemälde mit einer Dame im Pelzmantel hängt an der Wand, Markus’ Großmutter. «Sie schaut mir zu», schmunzelt Markus. Draußen lädt eine weiße Bank mit hellblau bezogener Polsterung zum Verweilen ein. Die Schneiderin ist seit 30 Jahren selbstständig. Sie hat die KunstModeDesign-Schule in der Herbststraße besucht und ihre Praxis für die Meisterprüfung bei einem Maßschneider in der Gumpendorfer Straße absolviert. Bei den Wiener Maßschneidereien und Designer_innen ist der weibliche Anteil hoch. Von 306 Betrieben haben 234 eine Chefin. Eines fällt aber seit Jahren auch auf: Viele Änderungsschneidereien sind in männlicher Hand, von 240 Betrieben sind es 140. Meist sind es Männer mit Migrationshintergrund. Grundsätzlich entwickelte sich das Kleidermachergewerbe in letzter Zeit leicht positiv, zumindest vor Corona. «Der Trend geht wieder mehr zu handwerklich produzierten Kleidungsstücken, zu Maßanfertigung und Maßkonfektion», schildert Markus. Diese Entwicklung habe – zumindest in gewissen Schichten – viel mit dem Thema Nachhaltigkeit zu tun, denn die Kleidung werde vor Ort produziert, das sei sozial und ökologisch verträglicher, mit hochwertigen Stoffen. «Mehr Menschen denken wieder darüber nach, was sie tragen. Sie wollen keine Kinderarbeit, keine verseuchte Umwelt.» Auch bei den Änderungsschneidereien gebe es mehr Nachfrage: «Viele entsorgen ihre Kleidung nicht immer sofort, sondern lassen sie ändern oder reparieren.» Ein Grund sei natürlich auch, dass im Vergleich zu früher weniger Haushalte eine Nähmaschine haben bzw. vielen das Know-how fehle.

Sommerkollektion aus Erdöl.

Auch Markus legt Wert auf Qualität: «Ich verwende kaum Kunstfaser, die Knöpfe beziehe ich aus dem Waldviertel und die Hemdenstoffe früher aus Vorarlberg, nun aus Italien.» Im Holzkasten gleich beim Eingang hängt die verbliebene Sommerkollektion, Kleider in warmen Herbsttönen kündigen die nächste an. Zum Vergleich: Bekannte Modeketten fluten ihre Filialen mit bis zu 24 Kollektionen im Jahr. Es ist ein atemloses Geschäft, mittlerweile ist fast das ganze Jahr über Ausverkauf. Die Ware muss raus, so schnell wie möglich. Das funktioniert am besten mit starken Preisreduktionen. Der Umsatz der Textilbranche hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Er wird mittlerweile weltweit auf 2.000 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt. Dieser Trend hat seinen Preis: Die UNECE (United Nations Economic Commission for Europe) bezeichnet die Folgen der Textilbranche als «sozialen und ökologischen Notfall». Sie sei verantwortlich für 20 Prozent der globalen Abwässer und für zehn Prozent der globalen CO2-Emissionen, mehr als Flugverkehr und Seefahrt zusammen.
Laut einer Umfrage im Auftrag von Greenpeace legen die Österreicher bei der Kleidung zwar Wert auf Qualität, mehr als die Hälfte der Käufer halten Gütesiegel für hilfreich. Doch gleichzeitig ist für 75 Prozent der Preis ausschlaggebend. Auch deshalb setzen große Handelsketten seit Jahren auf Auslagerung der Produktion in ärmere Länder und vermehrt auf billige Kunststoffe. Der Stoff der Stunde ist Polyester. Im Jahr 2000 wurden weltweit 8,3 Millionen Tonnen davon für Kleidung genutzt, im Jahr 2016 bereits 21,3 Millionen Tonnen. Für die Produktion von Polyester werden jährlich schätzungsweise knapp 70 Millionen Barrel Erdöl verwendet (1 Barrel = 159 Liter). Damit verursacht die Produktion dreimal so viel CO2-Emmissionen wie zum Beispiel jene von Baumwolle.

Langsame Kleider, lokale Masken.

Für atemlose Schnäppchenjagd ist im Pollsiri kein Platz: Wenn man bei Markus ein Kleid in Auftrag gibt, nimmt man erst einmal am runden Holztisch in einem gepolsterten Sessel Platz. Man fühlt sich zurückversetzt in eine andere Zeit, als eine Dame von Welt, die natürlich ihre eigene Schneiderin hat. Patrizia Markus fragt nach konkreten Wünschen, ärmellos, knielang, A-Linie oder doch mit schwingendem Rockteil? Sie fertigt mit schnellen Strichen eine Bleistiftzeichnung des Modells an. Dann sucht sie nach Stoffproben, um Farbton und Stoff auszuwählen, stets steht sie beratend zur Seite. Lieber einfarbig oder gemustert, nur Baumwolle oder doch mit ein wenig Elas­than? Ist eine Auswahl getroffen, wird ein Kostenvoranschlag erstellt, unterschrieben. Markus meldet sich einige Tage später, um einen Termin für eine Anprobe zu vereinbaren. Dann wird je nach Bedarf noch angepasst, ein letzter Schliff – und fertig ist das Kleid. Dadurch dass man sich für ein Kleidungsstück so viel Zeit nimmt, mitunter auch bereit ist, für Arbeit und Qualität mehr zu zahlen, haben der ganze Vorgang und auch das Produkt mehr Bedeutung.
Was könnte man tun, um nachhaltige, lokale Produktion zu fördern? Markus denkt mit etwas Wehmut an Unit F, die Förderplattform für zeitgenössisches österreichisches Modedesign, die sich für die Mode in Wien eingesetzt hatte. Die Nachfolgeorganisation Austrian Fashion Association könne dies aufgrund von fehlenden Budgetmitteln und einer anderen Schwerpunktsetzung nicht mehr im gleichen Umfang weiterführen. Es gibt derzeit die Idee, dass sich mehrere Schneidereien eine Werkstatt teilen. «Ich denke, eine größere lokale Produktion ist in Zukunft nur im Verbund möglich», so Markus. Ein Konzept ist in Arbeit, in Folge versucht sie dafür eine Förderung von der Stadt Wien zu bekommen. Außerdem ist in Verhandlung mit dem Finanzministerium, dass Kund_innen und Firmen einen steuerlichen Vorteil bekommen, wenn sie Produkte reparieren (lassen).
Doch die konkrete Unterstützung bleibt oft aus: Wochenlang habe sie sich bemüht, dass 120 heimische Betriebe den Produktionsauftrag von einer Million FFP2-Masken für Spitäler erhalten. Vergeblich. «Letztlich hängt es von einzelnen Personen in verantwortungsvoller Position ab, die dann einfach nicht wollen.» Die Lage sei derzeit sowieso schwierig, denn die Corona-Krise treffe die Sparte mit voller Wucht: Umsatzeinbrüche von 80 bis 100 Prozent, so Markus.
Ob wir bereit sind, auf lokale Produktion zu achten, bessere Arbeitsbedingungen zu fördern und durch Verzicht auf lange Lieferketten die Umwelt zu schonen? Markus hat ein zweites Standbein, das ihr nun ein wenig durch die Krise hilft: das Cateringunternehmen Gaumenfreude mit einer Greißlerei im 17. Bezirk. Sie bietet Brot, Aufstriche, Kipferl, Suppen zum Mitnehmen in Pfandflaschen. «Am Beginn der Corona-Zeit ist das gut angekommen, doch seit Juni stagnieren die Umsätze. Die Kund_innen kehren offenbar in die großen Supermärkte zurück.»