Reise auf sechs Beinen (3. Teil)Dichter Innenteil

2. Tag (Fortsetzung): Raneck – Ötscherwiese – Lackenhof

Eine gewaltige Wiese tut sich vor uns auf. Sie bietet eine atemberaubende Aussicht auf den mächtigen Ötscher.

Grafik: Andrea Vanek

Was meine Mutter über diesen schön geformten majestätischen Berg sagt, stimmt. Er hat wirklich eine besondere Ausstrahlung. Finster und würdevoll, wie ein strenger Vater, wie ein König, hockt er dort auf seinem Thron. An sehr klaren Tagen kann man ihn vom Fenster meines Elternhauses aus sehen. Wenn noch Schnee auf seiner Kuppe liegt, schaut er dem Kilimandscharo zum Verwechseln ähnlich. Aus der Ferne büßt er den Großteil seiner unnahbaren Erhabenheit ein. Er sieht einfach nur schön aus. Der Schnee ist Ende August längst verschwunden. Ich erkenne Details mit kristallklarer Schärfe. Alles scheint zum Greifen nah und unwirklich.

Die großflächige Wiese zu überqueren, verursacht ein mulmiges Gefühl. Man befindet sich auf einem Präsentierteller. Den Hund kümmert das wie immer wenig. Er läuft voraus, sobald er abgeleint wird. Ich muss ihn gleich wieder zurückpfeifen, weil ich einen Hochstand entdecke. Ein Raubvogel, vielleicht ein Adler, stößt einen scharfen Schrei aus. Die vertrauten Masten mit Leitungen tauchen wieder auf. Das hat etwas Komisches, so weit abseits jeglicher Zivilisation. Wie sich zeigen wird, täusche ich mich. Ich probiere noch einmal zaghaft, ob der Empfang hier vielleicht besser ist. Es gibt keinen, dafür befindet sich aber ein Gutshof mitten im Nirgendwo. Eine Schotterstraße lotst uns auf eine Anhöhe an dem Haus vorbei. Unten sitzen männliche Familienmitglieder an einem Tisch und plaudern. Eine hübsche junge Dackelmischlingshündin stürmt auf uns zu. Sie horcht nicht auf die Rufe ihres Besitzers. Der Hund ist sehr angetan. Ich ziehe ihm das Geschirr aus, damit er spielen kann. Erstaunlich, wie viel Ausdauer in dem alten Tier steckt. Die Zunge hängt ihm fast bis zum Boden, trotzdem saust er durch das hohe Gras, als hätten wir unsere Wanderung gerade erst begonnen.

Die Hündin ist offenbar läufig und ziemlich naiv. Sie interessiert sich nicht für die Avancen meines Hundes, sie möchte einfach Spaß haben. Anfangs ist er noch ganz Gentleman, aber er wird immer zudringlicher. Da er kastriert ist, wäre es an sich keine Tragödie, wenn er sie bespringt. Aber bei aller Eigenhundeliebe wiegt die Solidarität mit der Frauenwelt doch stärker. Die ist ja noch ein halbes Kind. Ich ziehe ihm das Geschirr wieder über, wobei ich ziemlich energisch vorgehen muss. Außerdem ist er Besitzer inzwischen aufgetaucht, um seine Dackeldame abzuholen. Reichlich spät, denke ich.

Einige Stunden gehen wir durch einen kühlen feuchten Wald. Verschiedenste Moose bedecken den daunenweichen Boden. An einigen Stellen wachsen ganze Farnwälder zwischen den hohen Stämmen der Nadelbäume. Man könnte fast glauben, man befindet sich im Dunkelsteinerwald. Diese Gegend ist so verlassen, dass ich mir nicht mehr die Mühe mache, mich hinter einem dicken Baumstamm zu verstecken, um meiner Blasenschwäche nachzugeben. Der Hund verfolgt mich jedes Mal und steht dabei neben mir, steinern, den Kopf wachsam erhoben und in alle Richtungen spähend.

Ich lasse ihn laufen. Nach seiner Hetzjagd mit dem Hundemädchen muss er wirklich müde sein. Das hindert ihn nicht daran, immer ein Stück voraus zu laufen und dann stehen zu bleiben. Freiwillig schont er seine Reserven nicht. Lieber würde er vor Anstrengung kollabieren. Das letzte Stück des Weges vor der nächsten Ortschaft führt waagrecht entlang von Waldhängen, nunmehr Mischwald. Das Gefälle ist beeindruckend. Ich hoffe inständig, dass der Hund mit seiner Angewohnheit, immer am äußersten Wegrand zu trippeln, nicht den Halt verlieren möge. Er ist zwar sicher geschickter als ein Mensch, aber wenn er hier ausrutscht, wird er sich trotzdem verletzen. Vor allem sähe ich keine Möglichkeit, ihn wieder herauf zu fischen. Doch alles geht gut und wir kommen nach Raneck. Der noch immer nicht existente Empfang macht mich mürbe. Ich grüße aufs Geratewohl die Bewohner eines Hauses, um sie zu fragen, ob ich ihr Telefon benutzen darf. Es sind zwei milchgesichtige Kinder im Teenageralter. Also frage ich sie nach ihren Eltern. Sie stieren mich wortlos an, als wäre ich ein Außerirdischer. Ich wiederhole meine Frage. «Wie bitte?», gibt das größere endlich von sich. «Sand eichare Ödtan daham?» – «Wie bitte?» Das darf doch nicht wahr sein, denke ich. Die können ihre eigene Muttersprache nicht. «Ob eure Eltern zuhause sind, möcht‘ ich wissen.» – «Nein.» – «Ist irgend ein anderer Erwachsener im Haus?» – «Ja.» – «Wer denn?» – «Die Oma.» – «Könnt ihr sie bitte mal kurz holen?» – «Ja.»

Wie versteinert

Nach einem kurzen Moment, in dem sie mich wie versteinert anschauen, verschwinden die Kinder im Inneren des Hauses. Kurz darauf erscheint ein älterer Mann, offenbar der Opa. Er macht zum Glück einen weniger verschreckten Eindruck und er versteht sogar Mundart. Ich wundere mich, ob ihn seine eigenen Enkel überhaupt verstehen können. Er bringt mir ein schnurloses Festnetztelefon. Während ich meiner Mutter die Situation erkläre, erscheint die Oma im Hausflur.

Meine Mutter ist, wie zu Befürchten war, besorgt um meinen Zustand, also sage ich ihr, ich muss auflegen, das Handy gehört nicht mir. Die Oma gibt ihren Senf dazu: «Na geh bitte. Ob da Ötscherwiese haum’s eh wieda an Empfong. Des kost‘ so vü vom Festnetz auf a Handy auruafm!» Mit diesem Kommentar verschwindet sie wieder. Ich biete dem Opa noch eine Ersatzzahlung für das Telefonat, die er lächelnd ablehnt. Der ist auch gestraft mit seiner Alten, denke ich.

Die letzte Asphaltstraße verbindet Raneck mit Lackenhof. Diesmal haben sich die Wegweiser nicht geirrt. Es dauert ziemlich genau eine Stunde und es geht zu meinem Vergnügen nur noch bergab. Ötscherwiese entpuppt sich nicht nur als frisch gemähte Wiese, auf der gerade ein Heuwender seine Arbeit verrichtet, sondern vor allem als Ort, bestehend aus wenigen urigen Einfamilienhäusern und mehreren Pensionen. Die Giebeldächer der alten Häuser führen vom First bis tief hinunter, fast bis zu den Fenstern. Sie sind allerdings so hoch, dass ich darunter noch ein oder zwei Geschoße vermute. Die wenigen Einheimischen begegnen mir freundlich. Ein Wirtshaus gibt es auch. Ich überlege, mich hier zu stärken, doch es sieht geschlossen aus und ich befürchte, der innere Schweinehund könnte Überhand nehmen, wenn ich erst einmal den Rucksack abgelegt habe. Der Dienstag ist anscheinend ein beliebter Ruhetag in dieser Gegend. Mehr aus Langeweile als aus Notwenigkeit frage ich eine Joggerin, ob Ötscherwiese schon zu Lackenhof gehört. Sie verneint, meint aber, es wäre nicht mehr weit. Ich müsste einfach nur der Straße folgen.


Hotelanlagen, Lifte, Reitstall

An einem Gehege mit Schafen vorbei, eine Abkürzung über einen Hof wegen des Wachhundes meidend, erreichen wir unser Ziel. Riesige Hotelanlagen, Lifte und ein Reitstall mit ausgedehnten Koppeln beherrschen das Bild von Lackenhof und sind Zeugnisse des florierenden Tourismus.

Es ist ein erstaunlich langgestreckter Ort. Wir marschieren weiter, bis wir endlich ein offenes Lokal in der Nähe des Zentrums finden. Die «Almwiese», die sich genau vor einem Nah&Frisch angesiedelt hat, erweist sich als sehr rustikales Café-Restaurant. Es wäre unter normalen Umständen nicht die Art von Lokal, die ich bevorzugen würde, aber momentan ist mir alles recht. Inzwischen habe ich mit der Anpassung an die österreichische Alpenästhetik und -bräuche keine so großen Schwierigkeiten mehr wie früher.

Ich breite dem Hund die Decke auf und verbanne ihn unter lautstarken Beschwerden unter den Tisch. Die Kellnerin versteht mich nicht. Einen Augenblick lang denke ich, ich bin auf dem Mond gelandet oder ich spreche in fremden Zungen. In Wahrheit ist die junge Frau einfach nur eine Saisonarbeiterin, der man nicht ansieht, dass sie aus dem Ausland kommt. Sie bringt mir einen halben Liter Orangensaft und eine Fritattensuppe. Zu meiner Überraschung besteht sie nicht nur aus Rindsuppe, sie enthält auch genauso viel Rindfleisch wie Fritatten. Da ich kein Fleisch esse, klaube ich die Stücke minuziös heraus und lege sie auf die Serviette. Trotzdem verbleiben ein paar darin und landen in meinem Mund. Bei solchen Gelegenheiten verwundert es mich immer wieder, wie langweilig Fleisch schmeckt. Manchmal, wenn ich sehr hungrig bin und ich rieche Gebratenes, bekomme ich Gusto darauf. Aber geschmacklich gibt es bei Weitem nicht so viel her, wie man sich immer einredet. Als ich angefangen habe, fleischlos zu essen, ist mir erst aufgefallen, dass der gute Geschmack tatsächlich vom Gemüse und den Soßen kommt. Der Hund vertilgt nicht nur seine Trockenfutterration mit sichtlichem Appetit, sondern auch den beachtlichen Berg Rindfleisch. Als ich nach einer Weile wieder hinuntersehe, hat er auch noch die Serviette gefressen.

Die nächsten Stunden verbringen wir als einziger Fixpunkt zwischen kommenden und gehenden Gästen an unserem Tisch. Neben uns sitzen ein paar Wiener. Der Hund schläft ein, seine schräg sitzenden Kulleraugen öffnen sich jedoch bei der leisesten Störung wieder. Ich bestelle eine Menge Tee, Kakao und Kuchen, damit sie uns nicht hinausschmeißen, und benutze die Toilette in regelmäßigen Abständen. Ich schreibe an meinem Bericht weiter, bis ich den Stift verlege. Als meine Eltern auftauchen, wirkt der Hund zu müde, um sich so unbändig zu freuen, wie er das normalerweise täte. Er versucht, seine mangelhafte physische Präsenz mit stimmlicher auszugleichen. Wir bestellen noch mehr Getränke, bevor wir schließlich abreisen.

Den nächsten Tag verbringt der Hund spazierganglos, wie ein Bär im Winterschlaf im Wechsel auf seinen diversen Lieblingsplätzen im Haus und im Garten. Er liegt, den Kopf über den Rand der Decke hängen lassend, die Pfoten angewinkelt, mit fest verschlossenen Augen da und schnarcht kettensägenrasselnd wie ein Mensch. Nach einer Weile erwacht er, gähnt geräuschvoll mit aufgerollter Zunge und begibt sich, etwas steif im Rücken, zu einer anderen Stelle, so als müsste er sämtliche Ruheplätze mit seiner Anwesenheit zu befüllen. Diese Reise war mein Geschenk an uns beide.

Der erste und zweite Teil von Andrea Vaneks «Reise auf sechs Beinen» erschienen in den Ausgaben 434 und 437. Sie sind auch auf unserer Homepage nachzulesen.

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