Vermessungen der inneren WeltArtistin

Ansichten eines natürlichen Surrealisten

David Sylvester Marek wurde in den 1970er-Jahren vom staatlichen Bildungssystem in die Sonderschule abgeschoben. Nun ist eine Auswahl seiner Kurzgeschichten als Buch erschienen. Franzobel, der es herausgegeben hat, nennt Marek einen Hochbegabten. Die Orientierungspunkte einer schwierigen Künstlerzusammenarbeit haben Mareike Boysen (Text) und Nina Strasser (Foto) erkundet.

Eine Hirnsuchmaschine wäre praktisch, sagt David Sylvester Marek. «Man beginnt zum Beispiel mit dem Wort Neubau. Dann bildet man mit jedem der sechs Buchstaben einen neuen Satz, eine Frage. Mit den Antworten, die man vermutet, bildet man wieder Sätze. Und so nähert man sich langsam dem Wesen des Wortes an. Das wäre eine Suchmaschine für das Hirn.» Den Innovationsgehalt seines Einfalls quittiert Marek, der an einem Tisch im Lokalbereich des Wiener Badeschiffs Platz genommen hat, mit einem süffisanten Lächeln. Franzobel, der neben ihm sitzt, wirkt ratlos. «Ja, genau», murmelt er schließlich in Mareks Richtung.

Beide, der vielfach ausgezeichnete Theater- und Romanautor Franzobel aus Vöcklabruck und der Neo-Literat Marek aus Wien, tragen an diesem Montagmorgen ihren angegrauten Haarschopf kurz geschnitten, außerdem Brille, einen grünen Pullover und Jeans. Darüber hinaus verbindet sie die zwölfmonatige Arbeit an einem Kurzprosaband, der im September unter dem Titel Das Geheimnis-

geschichtenlexikon des David Sylvester Marek im Klever-Verlag erschien. «Ich habe mich dabei oft wie in einer syntaktischen Waschmaschine gefühlt», sagt Franzobel. «Davids Texte haben mich ziemlich durchgeschleudert.»

Ausgangspunkt der Zusammenarbeit war die zehnte Auflage des Literaturpreises Ohrenschmaus für Menschen mit sogenannter Lernbehinderung im Jahr 2016. Marek, der in einem Betreuungsangebot des Wiener Sozialträgers Assist regelmäßig zu schreiben begonnen hatte, gewann ein Stipendium in Form einer Schreibbegleitung durch Jurymitglied Franzobel. Regelmäßig trafen die beiden sich an Mareks Arbeitsplatz in Rudolfsheim-Fünfhaus, um, so wenigstens schwebte es dem designierten Mentor vor, unterschiedliche Textformen und Stile zu besprechen. «Manchmal habe ich einen Zugang gefunden, aber man rennt bei David auch immer wieder an», sagt Franzobel. Mit seinen Versuchen, den Kurzgeschichten seines Schützlings zu besserer Verständlichkeit zu verhelfen, sei er ausnahmslos gescheitert – und habe schließlich aufgegeben. «David ist so ein authentischer, naturbegabter surrealistischer Schreiber, dass man ihm ohnehin nichts mehr beibringen kann oder muss.»

Landkarte der Assoziationen.

Das «hochbegabte Ergebnis einer Ménage à trois zwischen H. C. Artmann, Fritz Herzmanovsky-Orlando und Elfriede Jelinek» hat Franzobel Marek im Vorwort zum Buch genannt. «Er ist ein surrealistischer Kartograf», ergänzt er im Interview. «Alles wird auf Geografie übertragen: Beziehungen, Leben und Geschichte auf Garten, Gräben, Täler und Berge. Es gibt nichts, was David nicht in der Vermessung seiner inneren Welt anzuordnen versuchte.» Aus über 1000 von Marek eng beschriebenen Din-A4-Seiten traf Franzobel – zum ausgesprochenen Leidwesen des Autors – eine für die Veröffentlichung bestimmte persönliche Auswahl. Zwischen A wie Aufreißzirkus und Z wie Zusammenziehungsaufbaustraße finden sich im Buch auf 194 Seiten 88 Phänomene und deren hochpoetische Charakterisierungen innerhalb des Marek’schen Assoziationsgeländes. Durchgangsbaustellenzeitungsgalerie, Juwelierpassagenentwicklungsgarten, Klomuschelbeweihräucherungsrosarotbrillenschlangengraben und Ruinenschlachtfeld sind darunter.

Aber auch Bekannten wie Ferkel, Konflikt, Liebe, Schulaufführung und Trost hat Marek Texte mit einer Länge von immer eineinhalb Buchseiten gewidmet. Der sogenannte «Idiot» durchstreift im gleichnamigen Text eine Dorflandschaft und lauscht den Dialogen seiner enttäuschten Bewohner_innen. In einem Kloster etwa antwortet ein Polizist einem Mann mit Flöte, nachdem ihm dieser von «unheimlichen Autobahngefühlen» berichtet hat: «Mit Pelztieren und einem Gemüsekessel bin ich vor einem offenen Kanaldeckel gestanden und habe einen Bauarbeiter in einem Garten angerufen. Doch der konnte mir nur von Strumpfhosen in einem Schweinestall etwas erzählen. Ich weiß nicht, wo ich jetzt endlich noch etwas finde.» Der Wittgenstein’sche Satz, die Grenzen einer Sprache bedeuteten die Grenzen der Welt ihres Sprechers, gilt für Marek schlichtweg nicht, der stattdessen zusammendenkt, was andere streng getrennt voneinander verwahren.

Surrealismus und Alltag.

Wie so vieles andere, dem er begegne, habe es auch dem Vorwort von Franzobel an Vollständigkeit und Präzision gemangelt, sagt Marek, weshalb er ein eigenes hinzufügte. Eine elaborierte Beschwerde, die er darin vorbringt, bezieht sich scheinbar auf Gespräche im Allgemeinen. Von denen werde er, schreibt er, zumeist enttäuscht. «Was soll denn so Großartiges jeden Tag passieren, dass es dauernd eine Antwort gäbe auf die Frage, wie es gehe?» Gefragt danach, was stattdessen eine lohnende Unterhaltung mit sich bringe, sagt Marek im Besucherbereich des Badeschiffs: «Ich habe mir neulich gedacht, wenn ich alles aufschreibe, was die Leute so reden, wie ordne ich es dann an, dass daraus ein Kabarett entsteht? Wie mache ich das?»

Die Regeln mehrheitsfähiger Komik zu durchschauen, fällt ihm, der bisweilen unfreiwillig zum Alleinunterhalter wird, ähnlich schwer wie die Persönlichkeit eines Menschen zu begreifen. Marek hält sich daher an Hilfskonstruktionen in Listenform: Kriterienkataloge, Enzyklopädien, Steckbriefangaben. Sein Lieblingsbezirk sei der dreizehnte, sagt er, seine Lieblingsbeschäftigung die Eisenbahn, seine Lieblingssprache Latein und seine Lieblingsmischfarbe Grün-Blau. Auf der monatelangen Suche nach seiner Lieblingskirche, die er per Google Earth antrat, stieß er schließlich auf die Liebfrauenkirche in Rankweil.

«Wenn alles zusammenpasst, wie ich es mir denke, müsste die richtige Frau für mich bei der Bergrettung zu finden sein», sagt Marek wie aus dem Nichts. Die diversen Rätsel des Lebens, die er auf Flohmärkten und realen wie virtuellen Stadtgängen zu lösen versucht, scheint etwas im Innersten zusammenzuhalten. «Es ist alles fertig, wenn ich eine Beziehung führe», erklärt Marek. Zum Glück gebe es da zwei Möglichkeiten: «Entweder ist es die Frau selbst oder sie kennt eine. Und die kann wieder eine kennen. Wie lange brauche ich dann, bis ich ankomme?» Auch in dieser Hinsicht habe ihm Franzobel wenig helfen können.

Puppentheater.

In seiner Klagenfurter Rede zur Literatur sagte Franzobel 2017 über die Möglichkeit des oder der Schriftsteller_in, ein ihn oder sie überdauerndes geistiges Erbe zu schaffen: «Die Sprache ändert sich, und verstanden wird immer nur das, was man verstehen will, was mit dem eigenen Weltbild in Einklang steht.» Für das literarische Werk Mareks sei weder Österreich noch die Welt bereit, sagt er im Interview. «Aber das ist gerade das Spannende: dass er seine Umwelt mit einer völlig anderen Lebenswirklichkeit konfrontiert.» Vor einigen Monaten hat Marek begonnen, vermehrt szenische Texte zu schreiben. «Das sind wirklich die allerletzten Tage der Menschheit», versichert Franzobel.

«Wenn sich kein Theaterensemble findet, könnte man es mit Handpuppen probieren», sagt Marek und zieht einen Polizisten aus seinem Handwagen, der ansonsten mit kiloschweren Lexika und Bildbänden gefüllt ist. Auch die Möglichkeit eines Kabarettprogramms lässt ihn nicht los. Wenn man nun die eigene Wohnung und einen See übereinanderlege und Möbel, Buchten und Strände maßstabsgetreu zusammensetze, so könne, das habe er herausgefunden, etwas Lustiges entstehen. «Der parodistische Dualismus legt das nahe», sagt Marek. Franzobel sieht ihn an und nickt. «Was immer das heißt.»

Lesung von Franzobel und David Sylvester Marek:

11. November, 15.30 Uhr, Buch Wien

2., Messe Wien, Halle D

www.buchwien.at

Preisverleihung des Literaturpreis Ohrenschmaus 2018:

3. Dezember, 18 Uhr, Ovalhalle des MuseumsQuartiers

www.ohrenschmaus.net