Meine Geschichte erzählen (2)Dichter Innenteil

Illustration: Silke Müller

Am 7. Juni 2018 traf mich aus heitererem Himmel eine sichtbare Diagnose im Bauch: Verdacht auf Eierstockkrebs. Ich, die Krankenhaus-Phobikerin, musste operiert werden, um überleben zu können. Dann ging alles sehr schnell innerhalb von zwei Wochen großer Bauchschnitt, es folgten sechs Chemotherapien. Als mein «Chemokarusell» begann, war mein Ziel diese neue Erfahrung zu dokumentieren und zu jeder Behandlung einen Text zu schreiben. Dies tat ich in Reinform, wie es meine Befindlichkeit während dieser sehr anstrengenden Zeit zuließ. Was ich gelernt habe, ist auf mich zu hören und spontan zu tun, was gerade möglich ist und nicht mehr unbedingt, was ich will. Jetzt hat ein neues Jahr begonnen. Ich bin froh über die mir geschenkte Lebenszeit und freue mich darüber, «meine Geschichte» zu erzählen, für die, die sie hören mögen.

 

Meine zweite Chemo

«Du siehst aber süß aus», ruft die Zahnarzthelferin, die mich seit 20 Jahren kennt, als sie mich mit buntem Tuch beturbant sieht. Zuvor auf dem Fahrrad lächelten mir einige Passant_innen zu und zwei Männer riefen flirtend: «Das ja ist ein toller Hut!» Mit roten Lippen, Augenmakeup, dem passenden Kleid: eine auffällige Bohemian- Erscheinung – femme totale.
So viel Sorgfalt verwende ich sonst nur, wenn ich mich für einen Auftritt style, manchmal beim Tango, und heute ist meine die «Haare sind ausgefallen»-Premiere. Halt, nein ich habe nachgeholfen, nachdem sie genau am 12. Tag nach der ersten Dröhnung (ähm … Verzeihung, Gabe) begannen, sich strähnenweise von der brennenden Kopfhaut zu lösen, und innerhalb von drei Tagen hatte ich ein volles Haarnest in einer Tasse angesammelt. Welch ungewöhnliche Erfahrung, nebenbei durchs Haar zu streichen und plötzlich eine Handvoll davon darin zu halten.
Die Perückenmacherin hatte mich auf die seelische Tiefe dieses Moments vorbereitet und gesagt: «Bevor Se fleckig werden, kommen Se, dann schneiden wir alles ab.»

Irokese und Glatze.
Wie gerne wollte ich auf das große Sommerfest noch mit eigenem Haar gehen, doch am 16. Tag post chemi verewigen wir, meine Jugendfreundin und ich, Ausfall, Schnitt, Rasur filmisch und hielten die Stadien Irokese und Glatze in Bildern fest. Selbstbestimmt und mit Spaß. Es war mir so wichtig, mich nicht als Opfer zu fühlen.
Anscheinend steht mir die Glatze, die mich an meine Teeniezeit in den 80ern erinnert, aber davon abgesehen, dass mich damit friert, ist sie mir im privaten Ausgang unter Menschen nicht so ganz geheuer. Die Perücke in ihrer stolzen Haarpracht als Gegenstück zur Glatze ist mir allerdings noch genauso fremd.

Am Abend vor der zweiten Chemo sah ich in den Spiegel, fühlte mich als Samurai und freute mich fast in die Schlacht der zweiten Chemo zu ziehen. Meine Werte waren zwar vor einigen Tagen so schlecht, dass mich meine Ärztin anrief, ich müsse mich sofort in der großen Klinik mit hugenottischem Namen melden, doch ich fühlte mich vital, gut genährt, entschlossen, in den Kampf gegen freischwimmende Krebszellen zu ziehen, die sich einnisten wollen, um von mir zu zehren … Parasitenpack! Vampire!
Ich ziehe also mit meinen Kühlpads für Finger und Füße gegen die Gefühlsstörungen auf meinem «Sechstundenstuhl» ein, packe Nüsse, Bücher aus und frage nach den Entspannungs-CDs mit Playern, von denen mir der Professor begeistert erzählt hat.
«Gibt’s nicht», sagt die kompakte Schwester. «Wie bitte? Das ist aber seltsam», säusle ich. «Hm, dann werde ich dem Professor wohl schreiben, dass es die CDs gar nicht gibt.» Im Nullkommanichts öffnet sie einen Schrank mit über 100 CDs, lächelt mich an, reicht mir den Player, und ich suche mir aus, welche Musik mich glücklich bestärken soll in dieser zweiten Chemorunde als Verbündete gegen die Krebszellen.
Wie beim letzten Mal werde ich müde und schlafe ein. Als ich gen Nachmittag erwache – wie schnell diese sechs Stunden vergehen – fällt es mir schwer, meine Siebensachen einzusammeln.
Kurz vorm Abschied vom Tropf und dem Spülen des Ports, kommt von der Schwester lakonisch: «Det is ne Spritze, die jeben Se sich morgen, 24 Stunden späta?» «Wie bitte? Warum?» «Det is gegen die Blutkörperchen.» «Moment mal», denke ich, «vielleicht meint sie doch eher dafür?» Damit die Abwehrzellen, die Leukos zunehmen und nicht von der Chemo mitzertrümmert werden. Ich schweige, staune über die Betriebsblindheit, ohne Anweisung, einfach diese «Neulasta»-Spritze in die Hand gedrückt zu bekommen. Als sei ich ein mich selbst spritzender Profi. Wobei die Nähe meines Wohnortes ans Kotti (Anmerkung: ein Berliner Junkietreffpunkt) möglicherweise dieses Missverständnis auslösen könnte. Am gleichen Tag schlafe ich zwölf Stunden lang weiter.

Grippesymptomwirkungen.
Nachdem ich am folgenden Tag die Spritze gesetzt habe, kommen die angekündigten Grippesymptomwirkungen in Form von Knochenschmerzen und Übelkeit.
Wie bitter die Gifte, halt die Gaben, nach einigen Tagen noch aus dem harten Gaumen heraus nachschmecken.
Am dritten Tag, post chemi 2, schaffe ich es zum Dachgartengießen mit Mühe. Seit diese Krankheit mich der Lohnarbeit enthebt, habe ich nämlich die Aufgabe übernommen, für unsere Hausgemeinschaft das gemeinsame Dachgrün zu wässern. Ich genieße gerade, in Ruhe gelassen zu werden und Zeit für mich ohne größeren terminlichen und beruflichen Zwang zu haben. Fast schäme ich mich dafür. Musste ich Krebs bekommen, um nur das zu tun, was ich gerade kann, bei mir und meiner Befindlichkeit zu sein und zu bleiben, im Jetzt?
Knochenschmerzen, gefühlsgestörte Finger, Chemomesserstiche im Blähbauch … Aber sonst geht es mir gut, weder kotze ich, noch habe ich abgenommen. Ein Nachbar befragt mich zu meiner Angst.
Die fühle ich gerade nicht, ich gehe stoisch den Weg im Hier und Jetzt. Ich sehe die Schmetterlinge und Spatzen, fühle meine Übelkeit, höre Vögel, den Lärm der Stadt. Ich benötige alle Kraft, um dies zu tun, Angst würde mich schwächen: «Weißt du», sage ich, «wenn ein Rezidiv kommt und ich palliativ bin, dann werde ich Angst haben. Jetzt tue ich, was zu tun ist.»
Ich verrate ihm nicht, dass ich für eine Produktion im nächsten Jahr zu singen übe und einige kreative Pläne habe. Wenn es nicht klappt, dann eben nicht, so aber habe ich ein Ziel, eine Motivation.

Die guten Momente.
Der Magen schmerzt, ich spüre, wie die Chemo in der Schleimhaut des Magens wütet. Hafersuppe löffeln, liegen und sein, dankbar sein – für das Schöne, die guten Momente, den Mann an meiner Seite, die Freunde und Nachbarn, die ihre Hilfe anbieten, einfach die Momente, an denen ich im Wind unter diesem Oleander noch liegen und den Wolkenungeheuern, die den Herbst ankündigen, nachspüren kann.
«Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist, die Blumen, und wo den Sonnenschein, und Schatten der Erde?», schreibt Hölderlin.
Aber noch ist Spätsommer, ich kann Fahrrad fahren und in eine Decke gehüllt in die Sterne hier schauen. Schön wäre nur, ohne Schmerzen zu sterben, wenn es dann so sein soll. Der Herzenswunsch eines jeden Menschen.

Wem ist es vergönnt?

 

Nives Kramberger ist Schauspielerin und Chansonsängerin mit diversen eigenen Soloproduktionen sowie Stimm- und Sprechtherapeutin und Stimmyoga-Lehrerin. Sie lebt in Berlin. www.niveskramberger.de
Der Augustin veröffentlicht ihre Texte über ihre Chemotherapiebehandlungen in mehreren Teilen. «Meine erste Chemo» erschien im Augustin Nr. 482.

 

«Rezidivangst»

 

Und plötzlich rasen deine Gedanken wie Sternschnuppen,

dein Schlaf wird leicht und kurz.

Zermürbt liegst du im Bett deiner Angst.

Die Schlafmittelalchemie dämpft dich am Tag zur aufgedunsenen Bleischwere,

die Nacht verlängert sie dir jedoch nicht.

Du lauschst in deinen Körper,

dem du so vertraust, und spürst seinen Kampf.

Müdigkeit kommt, doch du wirst gejagt von kläffender Unruhe in dir.

Was ist anders als in den letzten Wochen, in denen du stark und freudvoll warst und lediglich ahntest?

Der inneren Erstarrung folgt dein trotziges Aufbegehren.

Du galoppierst, du trotzt, du willst dem Tellereisen Angst widerstehen, pfeifst im Wald, drehst dich schneller und schneller im Reigen deiner Gefühle, Gedanken und Erschöpfung.

Die Vögel singen im Morgengrauen den Sommer ein, du denkst an dein Sterben.

Was ist anders als vor der Gewissheit?

Zuversicht, Hoffnung, wo seid ihr?

«Angst essen Seele auf» …